Boris Koch: Das Kaninchenrennen (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Samstag, 18. Oktober 2014 10:01
Boris Koch
Das Kaninchenrennen
Umschlaggestaltung und Innenillustrationen: Das Illustrat
Heyne fliegt, 2014, Hardcover, 336 Seiten, 12,99 EUR, ISBN 978-3-453-26940-8 (auch als eBook erhältlich)
Von Gunther Barnewald
Boris Koch ist den Lesern der Phantastik eher durch seine gruseligen Geschichten bekannt, einem größeren Lesekreis aber auch als erfolgreicher Fantasy-Autor. Nun hat er sich an etwas ganz neuem probiert: Einem Jugendbuch ganz ohne offensichtliche phantastische Elemente.
Erzählt wird von einem kleinen Ort auf dem Land, in dem jedes Jahr eine jahrhundertealte Tradition gepflegt wird. Zu Ehren eines Kaninchens, welches die Dorfbewohner dereinst vor Räubern warnte, dürfen jedes Jahr alle Zehnjährigen ein Rennen veranstalten. Wessen Kaninchen als erstes über die Ziellinie geht, der ist der große Held, dem winken Ruhm und Anerkennung auch weit über das Jahr seines Erfolgs hinaus.
Tim Köhler ist dieses Jahr einer der Zehnjährigen, welche die Chance zu ewigem Ruhm haben. Doch niemand traut ihm etwas zu, denn erstens kommt er immer zu spät, und zweitens war sein Vater ein berühmter „Kneifer“, also ein Zehnjähriger, der nicht zum berühmten Rennen angetreten ist. Die ganze Familie hatte damals darunter leiden müssen, bis heute hält sich dieser Makel hartnäckig im ganzen Dorf. Zudem sind Tims Vater und seine Mutter vor vielen Jahren, als Tim noch ein Baby war, bei einem Ballon-Unfall ums Leben gekommen, so dass der Junge bei seinen Großeltern aufwächst. Und vor allem der Opa macht gewaltigen Druck, dass diesmal die schwere Scharte ausgewetzt werden kann, war er doch letztes Mal in der Vaterrolle machtlos. In seinen Augen zählt nur Tims Sieg, nichts anderes.
Wegen des großen Stresses, der rund um die Vorbereitungen auf das große Rennen entstehen, überwirft sich Tim mit seinem zwanghaften Freund Carsten und einem weiteren Jungen, steht plötzlich völlig ohne Freunde da. Gut dass mit Pascal ein neuer Junge ins Dorf gezogen ist, der von den anderen als Fremder geschnitten wird, der aber sehr nett ist. Schließlich lernen Tim und Pascal auch noch Lissy kennen, die als Mädchen leider nur mit einem Zwergkaninchen am Rennen teilnehmen darf, und so keine Chance hat, was alle drei ungerecht finden. Doch Lissy hat Mut und Chuzpe und sich fest vorgenommen, zumindest einige der Jungen mit den großen Kaninchen hinter sich zu lassen.
Leider verpasst Tim ausgerechnet die allgemeine Vorstellung der zu wählenden Rennkaninchen durch seine Unpünktlichkeit. Nur kurz lächelt ihm ein brauner Hasenkopf zu, dann wird er, da er sich später eingeschlichen hatte, aus der alten Villa geworfen. Tim beschließt, das braune Kaninchen mit der Nummer 13 zu wählen, ohne zu ahnen, dass ausgerechnet dieses Tier mit einem verstümmelten, verkürzten Vorderlauf geboren wurde.
Aber Tim gibt nicht auf und hat schließlich eine geniale Idee, wie sein neuer tierischer Freund vielleicht das Rennen doch noch gewinnen kann...
Boris Koch ist ein überaus wunderbares, weil toll erzähltes und mitreißendes Buch gelungen. Vor allem die Emotionen der Protagonisten und Tims Sichtweise der Welt werden vom Autor meisterhaft herausgearbeitet.
Dabei wirkt die überaus spannende Geschichte manchmal wie aus der Zeit gefallen. Die hiesigen Kinder beschäftigen sich mit Tieren, rennen im Wald herum, fahren mit Fahrrädern und treffen sich, um mit ihren Kaninchen zu trainieren oder auf einem Fluss zu fahren. Nirgendwo gibt es Virtual Reality. Keine Handys, keine einzige SMS, nicht einmal Handys werden erwähnt. Keine langen Diskussion über Apps, Apple oder Twitter, die Kinder reden noch persönlich miteinander, sitzen nicht nur vor dem Computer, stellen sich dem realen Leben, den Ungerechtigkeiten dort, den Herausforderungen und Anforderungen.
So befremdlich dies für moderne Leser sein mag, so wohltuend ist dies für die Atmosphäre des Buchs und vor allem den Spannungsaufbau. Denn der Autor konzentriert sich voll und ganz auf die Strukturen und Gegebenheiten seines fiktiven Dorfes Niederrohde, erschafft so eine überaus glaubwürdige kleine Welt, in der man sich schnell heimisch fühlen kann.
Ganz stark sind die einzelnen Charaktere: Die mutige Lissy, der nette Pascal, der überzwanghafte Carsten, der arrogante Arno und, allen voran, der manchmal sehr egoistische, etwas unorganisierte Tim, der mit seinen Stimmungsschwankungen so echt wirkt, dass man ihn für einen realen Zehnjährigen hält.
Ein rundum empfehlenswertes Lesevergnügen nicht nur für junge Menschen (und alleine für diese auch viel zu schade), sondern für alle Altersklassen, besonders für Erwachsene, denen der ausgeprägte Technologiefimmel ihrer Mitmenschen (ständige Erreichbarkeit, allgegenwärtiges Geklingel und Gezirpe, ständiges Gesabbel etc.) mächtig auf den Zeiger geht.
Ein ganz besonderes Lob für das liebevoll gestaltete witzige Coverbild, eine aussterbende Kunst, da nur noch wenige Bücher mit solch knuddeligen Illustrationen erscheinen. Ein echter Hingucker!
„Das Kaninchenrennen“ ist, ähnlich wie Mark Twains Geschichten um Tom Sawyer und Huckleberry Finn, einfach eine wunderbar ausgedachtes und sehr gradlinig erzähltes Abenteuer, welches dem geneigten Leser unbändiges Lesevergnügen bereiten kann, wenn er sich darauf einlässt. Einfach ein tolles Buch!