M. R. Carey: Die Berufene (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Samstag, 18. Oktober 2014 09:58
M. R. Carey
Die Berufene
(The girl with all the gifts, 2014)
Aus dem Englischen von Charlotte Lungstrass-Kapfer und Momo Evers
Knaur, 2014, Paperback, 508 Seiten, 14,99 EUR, ISBN 978-3-426-51513-6 (auch als eBook erhältlich)
Von Gunther Barnewald
England in der nahen Zukunft: Ein gefährliches neues Virus hat die Menschheit überrascht. Jeder Infizierte wird zur Gefahr für seine Mitmenschen, alle haben den Impuls, ausgelöst durch menschlichen Körpergeruch, die Gesunden zu beißen, wodurch die Krankheit übertragen wird. Heilung gibt es bisher nicht, und während die eine Hälfte der Menschheit sich in den Städten einigelt, versuchen einige Desperados auf dem Land zu überleben und sich gegen die Gefahr zusammenzuschließen. Diese Menschen werden Schrottwühler genannt.
Berichtet wird von einer kleinen militärischen Forschungsstation, in der eine ehrgeizige Wissenschaftlerin mit ihren Kollegen und einigen Soldaten versucht, die neue Krankheit zu erforschen. Dafür haben sich die Erforscher junge, infizierte Kinder geschnappt, testen deren Körper, aber auch deren Psyche, versuchen sie wie normale Kinder zu beschulen, natürlich immer gefesselt an deren Stühle oder nachts in Zellen.
Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht von Melanie. Sie ist der Klassenprimus unter den Infizierten, das Kind, welches den normalen Menschen am ähnlichsten ist. Als dann aber die Infizierten von außerhalb, angetrieben von organisierten Schrottwühlern, den Stützpunkt überfallen und alles zerstören, gelingt nur wenigen die Flucht, unter ihnen Melanie, die beweist, dass sie sich etwas unter Kontrolle halten kann, nicht zwanghaft ihre Krankheit weitergeben muss.
Doch wird ihr zusammen mit den wenigen Überlebenden der Forschungseinrichtung die Flucht durch die Gefahren gelingen? Werden sie sich in eine der Städte flüchten können? Und was ist mit dem infizierten Kind? Wird man ihr Leben verschonen? Gibt es überhaupt eine Rettung für die Menschheit, so wie wir sie kennen? Oder ist die Bedrohung stärker?
Wer sich für den apokalyptischen britischen SF-Film „28 Days Later“ und seine Fortsetzung begeistern konnte, der wird sich zweifellos auch für diese Geschichte erwärmen können, denn Parallelen sind nicht zu übersehen.
Ähnlich wie der Film gelingt Mike Carey, der hier als M. R. Carey firmiert und bisher vor allem im Bereich der Comics erfolgreich war, eine starke Atmosphäre. Beklemmend wird geschildert, wie die infizierten Kinder entmenschlicht und wie Vieh behandelt werden, wie die Forscher sie zu Studienobjekten degradieren, welche man jederzeit aufschneiden darf. Eine erschreckend grauenhafte Welt, die der Autor in düstersten Farben und prägnanten, kalten Sätzen beschreibt.
Leider sind Stil und Atmosphäre die einzigen Pluspunkte des Werks. Das Sujet ist wenig originell, die schablonenhaften Protagonisten sind ebenfalls wenig überzeugend. Neben Melanie, die als einzige einigermaßen glaubhaft erscheint, treten auf: Der sture, phantasielose Soldat, die nette, warmherzige und hilfsbereite Lehrerin und die vom Ehrgeiz zerfressene Wissenschaftlerin, die ihrem Erfolgsstreben alles opfert. So weit so langweilig!
Die Geschichte braucht über 150 Seiten, bis die Protagonisten mit der Welt draußen konfrontiert werden, sie endlich den Stützpunkt mal verlassen dürfen/müssen. Bis dahin entblättert der Autor scheibchenweise die Geheimnisse dieser aus den Fugen geratenen Welt.
Für Leser, die das Sujet überrascht, die Bücher oder Filme zu diesem Thema nicht kennen, sicherlich eine spannende Angelegenheit. Wer sich auskennt, reagiert aber mit zunehmender Langeweile, auch der Plot (der hier nicht verraten werden soll), ist keine große Überraschung.
Vergleicht man dieses Buch mit berühmten literarischen Vorgängern (zum Beispiel „Die Triffids“ von John Wyndham), so fällt auf, dass Carey wenig Neues zu bieten hat. Einzig, dass er die Geschichte nicht aus der Sicht eines Gesunden erzählt, sondern eine Erkrankte als Protagonistin wählt, hebt das Buch aus der Masse vor allem britischer Romane und Filme heraus (neben Wyndham und „28 Days Later“ und „28 Weeks Later“ sollten hier die Autoren John Christopher, James Graham Ballard, R. C. Sheriff und deren Werke und der Film „Der Tag, an dem die Erde Feuer fing“ nicht unerwähnt bleiben), in denen die Menschheit samt ihrer Zivilisation untergeht. In Großbritannien hat der Weltuntergang sozusagen eine lange künstlerische (sowohl literarische als auch filmische) Tradition. Leider vergällen die klischeehaften Protagonisten und das abgegriffene Sujet den Lesegenuss.
Fazit: Für Leser, denen das Thema noch recht neu ist, dürfte das vorliegende Buch durchaus spannend, überraschend und mitreißend sein. Wer sich im Genre auskennt, sollte sich die Anschaffung sparen: Er wird hier nichts Neues finden!