Julie Berry: Ich bin die, die niemand sieht (Buch)

Julie Berry
Ich bin die, die niemand sieht
(All the Truth That’s in Me, 2013)
Aus dem Amerikanischen von Stefanie Singh
cbj, 2013, Taschenbuch, 318 Seiten, 8,99 EUR, ISBN 978-3-570-40209-2 (auch als eBook erhältlich)

Von Irene Salzmann

Judith Finch verschwindet an dem Tag, an dem ihre Freundin Lottie ermordet wurde. Zwei Jahre später – sie ist jetzt 16 Jahre alt – taucht sie überraschend wieder auf, kann aber niemandem erzählen, was ihr zugestoßen ist, denn der Entführer hat ihr die Zunge herausgeschnitten und die Mutter verbietet ihr, dass sie zu sprechen versucht. So führt Judith ein trauriges Leben, gemieden von den Bewohnern Roswell Stations, ignoriert von der Mutter, wenig beachtet von ihrem Bruder Darrel und auch von ihrer heimlichen Liebe Lucas, der schon bald die schöne Maria heiraten wird.

Das Auftauchen der Homelanders und der Kampf gegen diesen Feind verändert jedoch Vieles: Darrel kehrt als Krüppel nach Hause zurück und ist fortan auf Judiths Hilfe angewiesen. Um eine Zukunft zu haben, besucht er wieder die Schule, was es dem Mädchen ermöglicht, ebenfalls Lesen und Schreiben zu erlernen. Der einzige Wermutstropfen ist der Lehrer Mr. Gillis, der sie ständig bedrängt und sie für jede Zurückweisung hart bestraft. In Maria, die sich zu dem Mann bekannte, den sie wirklich liebt, findet Judith eine Freundin, die sie darin unterstützt, das Sprechen erneut zu erlernen. Außerdem ist Lucas nun wieder frei. Allerdings behandeln die Nachbarn auch ihn als Außenseiter, denn der Kampf wurde durch einen unerwarteten Helfer gewonnen. Plötzlich steht wieder die Frage im Raum, wer Lottie ermordet hat. Der Verdacht richtet sich auf Lucas, und Judith sieht sich gleichfalls mit Vorwürfen konfrontiert, die ihr das Leben kosten können…

Leider legt die Autorin nicht genau fest, wo und wann die Geschichte spielt. Man kann nur vermuten, dass es sich bei Roswell Station um einen fiktiven Ort in den USA mit realem Vorbild (wenn auch nicht jenes Roswell … oder Salem ohne Hexen…) handelt, und die Ereignisse im 18. Jahrhundert angesiedelt sind. Einige Hinweise lassen diesen Schluss zu, wie beispielsweise die Kleidung der Protagonisten, die Macht der Kirche über die Gläubigen, die strengen Sitten. Bei den Homelanders dürfte es sich um Indianer handeln. Jedoch wird nichts davon näher ausgeführt.

Von Belang sind allein Judiths Erlebnisse, die sie selbst erzählt, wobei sie ihre große Liebe Lucas und nicht den Leser als Gesprächspartner wählt. Das „du“ für den jungen Mann (20 Jahre) ist zunächst etwas gewöhnungsbedürftig, aber relativ schnell akzeptiert man das als Eigenart des Buchs/der Protagonistin, das/die keine gedanklichen Monologe, sondern lieber eine Zwiesprache hält – ungewöhnlich, denn solche Experimente findet man selten in der Unterhaltungsliteratur.

Dadurch wird deutlich, dass Judiths Dreh- und Angelpunkt einzig Lucas ist, selbst wenn sie sich meist an die Konventionen hält und sein Werben zögerlich annimmt. Als sie entführt wird, hält sie seinetwegen durch, als die Homelanders angreifen, ist sie für ihn zu einem großen Opfer bereit, als er anderen Mädchen seine Beachtung schenkt, ist sie zum Verzicht bereit, als ihm Unheil droht, möchte sie sich für ihn opfern (und umgekehrt).

Wegen Lucas verliert Judith aber nicht ihre Familie und andere aus den Augen. Es wird ihr zwar nicht gedankt, aber sie stellt die eigenen Interessen für das Wohlergehen ihrer Mutter und Darrels zurück. Immerhin findet sie in ihrem Bruder endlich einen Verbündeten, der zu ihr hält, ebenso in Maria, was man anfangs gewiss nicht erwartet hat. Und noch andere spielen wichtige Rollen im positiven und negativen Sinn.

Vor dem Leser wird ein historisches Gemälde ausgebreitet, das sich an dem der (frühen) Kolonisten in den USA orientiert. Die Schicksale der Einzelnen sind tragisch und packen das Publikum. Zweifellos hätte Julie Berry noch einiges mehr herausholen können, doch wäre das vermutlich zu Lasten der eindringlichen Schilderungen gegangen, die Judith und Lucas und ihre reine Liebe (für young adults) in den Mittelpunkt stellen.

Leserinnen ab 12 Jahre, die historisch-dramatische Romanzen schätzen, werden begeistert sein, sobald sie sich an das „du“ (Lucas) gewöhnt haben. Ein wirklich interessantes, nicht alltägliches Buch!