April Genevieve Tucholke: Fürchte nicht das tiefe blaue Meer (Buch)

April Genevieve Tucholke
Fürchte nicht das tiefe blaue Meer
Funkeln und Brennen 1
(Between the Devil and the Deep Blue Sea, 2013)
Aus dem Amerikanischen von Anja Galić
cbt, 2013, Paperback mit Klappenbroschur, 382 Seiten, 12,99 EUR, ISBN 978-3-570-30884-4 (auch als eBook erhältlich)

Von Irene Salzmann

Die Zwillinge Violet und Luke White leben allein in der riesigen, heruntergekommenen Villa am Meer, die ihre einst vermögenden Ahnen in dem verschlafenen Nest Echo erbaut haben, während die Eltern, beide Maler, sich in Europa inspirieren lassen. Längst ist das Geld, das den beiden 17jährigen zur Verfügung stand, aufgebraucht, sodass Violet das Gästehaus vermietet, um die offenen Rechnungen begleichen zu können.

Wenig später zieht der gleichaltrige, sehr attraktive River West ein. Violet ist fasziniert von ihm und fasst schnell Vertrauen in ihn, was so weit geht, dass sie nachts neben ihm schläft. Luke toleriert diese Entwicklung, während er Sunshine Black, die Tochter der Nachbarn und Violets Freundin, anbaggert.

Mysteriöse Vorkommnisse trüben jedoch das scheinbare Idyll: Als Violet klar wird, dass River eine Menge Geheimnisse hütet, wichtigen Fragen ausweicht und häufig lügt, versucht sie, auf Distanz zu gehen, aber immer wieder lässt sie sich von seinem Charme einlullen – sogar als ein Mädchen verschwindet und die Kinder des Ortes, mit Pflöcken bewaffnet, auf dem Friedhof nach dem Teufel suchen und der Vater von Jack, dem Jungen, der die Bande anführte, mitten auf der Straße Selbstmord begeht.

Diese und andere Geschehnisse bringen Neely Redding, Rivers um ein Jahr jüngeren Bruder, auf dessen Spur. Allerdings ist er nicht der Einzige, der weiß, was los ist – und die Situation eskaliert…

Der Roman beginnt sehr behäbig, sodass man nach mehreren Seiten geneigt ist, das Buch wieder zur Seite zu legen. Violets Erinnerungen an ihre verstorbene Großmutter Freddie, die einst eine skandalumwitterte, lebenslustige Frau war und in ihren späteren Jahren den Enkeln mehr Halt gab als deren Eltern, und die ganze Aufbereitung des Hintergrunds scheinen wenig mit der eigentlichen Handlung zu tun zu haben, und es dauert eine Weile, bis die Story in Schwung kommt.

Tatsächlich nimmt sie erst Fahrt auf, als das kleine Mädchen verschwindet und sich die seltsamen Vorkommnisse mehren – gut, wenn man am Ball geblieben ist, denn die Spannung steigt. Jedoch bleibt die Autorin eine Erklärung längere Zeit schuldig, weil River – niemand zweifelt, dass er mit all dem zu tun hat – schweigt, die Gastgeber in seinen Bann zieht und die Leser zusammen mit Violet rätseln lässt: Wie macht er das? Und warum?

Die Erklärung stellt letztendlich keine große Überraschung dar, denn Personen mit ‚Superkräften‘ findet man reichlich in Comics und in Büchern wie „Das Ikarus-Projekt“ 1 + 2 (Jackie Kessler & Caitlin Kittredge, Lyx) oder „Visionen der Nacht“ 1 bis 3 (Lisa J. Smith, cbt). River verfügt über besondere Kräfte, mittels derer er die Menschen seines Umfelds manipuliert. Für ihn ist das – allen Ernstes! – ein großer Spaß, denn er ist praktisch süchtig nach den Gefühlen, die er empfindet, wenn er seine Gabe einsetzt. Und noch schlimmer: Er glaubt, auf diese Weise Gutes zu tun.

Violet und Neely bemühen sich, River zur Vernunft zu bringen, dessen Fähigkeiten offenbar außer Kontrolle geraten, da er einiges offenbar unbewusst tut und sich an anderes gar nicht erinnert. Lügt er wieder – oder spricht er, der, wie sich später herausstellt, selbst Opfer tragischer Umstände ist, ausnahmsweise die Wahrheit?

Nun darüber zu diskutieren, ob die Sprüche Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht und Der Zweck heiligt die Mittel ihre Richtigkeit haben, würde an dieser Stelle zu weit führen, zumal gewiss die meisten zustimmen werden, dass notorische Lügner mit Vorsicht zu genießen sind und man seine Möglichkeiten nicht missbrauchen darf.

Obwohl River schlimme Dinge tat, zu denen er steht, sind Violet und Neely immer noch bereit, ihm zu verzeihen, da sie darauf vertrauen, dass er nicht durch und durch böse ist und sich fangen wird. Dann passiert etwas, das ihren Glauben schwer erschüttert. Plötzlich schweben sie alle in tödlicher Gefahr und… Diese Wendung möchte man nicht vorwegnehmen. Sie stellt außerdem die Weichen für „Between the Spark and the Burn“, das den relativ in sich abgeschlossenen Roman „Fürchte nicht das tiefe blaue Meer fortsetzt, denn viele Fragen blieben offen, sowohl was die gemeinsame Familiengeschichte der Whites und Reddings als auch die Geheimnisse von River und seinen Halbgeschwistern betrifft.

Insgesamt fühlt man sich von April Genevieve Tucholskes Debüt trotz des etwas zähen Starts sehr gut unterhalten, denn das Buch zieht Leser ab 13 Jahre immer stärker in den Bann und weiß auch das reifere Publikum durch unerwartete Entwicklungen zu packen.