Vitali Sertakov: Der Dämon erwacht- Cryonic 1 (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Samstag, 28. September 2013 10:55
Vitali Sertakov
Der Dämon erwacht
Cryonic 1
(Prosnuvshiisya Demon, 2005)
Aus dem Russischen von Christiane Pöhlmann
Piper, 2013, Paperback, 496 Seiten, 16,99 EUR, ISBN ISBN 978-3-492-70307-9 (auch als eBook erhältlich)
Von Gunther Barnewald
Das vorliegende Buch ist der Auftakt zu einer Post-Doomsday-Serie des russischen Autors Vitali Sertakov.
Artur Kowal hat sich im Jahre 2007 einem neuartigen Experiment unterzogen, bei dem versucht werden sollte, Menschen so zu konservieren, dass sie zu beliebigen Zeiträumen später wieder zum Leben erweckt werden können, ohne Schaden genommen zu haben. Leider hat das Ganze viel zu gut funktioniert, denn Artur erwacht knapp 120 Jahre später in dem verlassenen Institutsgebäude und findet fast nur noch mumifizierte Leichen. Erst durch den Kontakt mit Menschen des Jahres 2126 erfährt er, welche grundlegenden und vor allem erschreckenden Veränderungen die Welt seitdem erfahren hat.
Durch eine schiefgelaufene Impfung sind fast alle Menschen zeugungsunfähig geworden. St. Petersburg wird, wie große Teile Russlands, von exotischen kleinen Splittergruppen beherrscht. Durch radioaktive Verseuchung sind bei allen Lebewesen (Menschen, Tiere, Pflanzen) drastische Mutationen entstanden, die zu einer völlig neuen Flora und Fauna geführt haben. Während menschliche Mutanten die seltsamsten Fähigkeiten entwickelt haben, kämpfen die Reste der Zivilisation um ihr Überleben mit scheinbar mythischen Tieren (zum Beispiel feuerspeiende Drachen) oder bedrohlichen Pflanzen, die sich rasend schnell bewegen und alles andere Lebendige verdrängen können. Inmitten dieser martialischen Welt findet sich der Protagonist wieder und muss, wie dies meist vor allem bei Superhelden der Fall ist, die zivilisierte Welt retten. So übernimmt Artur Kowal dort auch bald eine entscheidende Rolle, um die Reste menschlicher Zivilisation, die trotz Unterbevölkerung nichts Besseres zu tun haben, als sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, eine Zukunft zu ermöglichen, weil die Menschheit ja wieder mal am Abgrund steht...
Was extrem spannend mit Arturs Erwachen in einem unbelebten Gebäude nach einer offensichtlichen Katastrophe beginnt (und dabei frappant an den tollen Film „28 Days Later“ erinnert), wird leider mit fortlaufender Handlung immer surrealer und blödsinniger. Wobei nicht die mangelnde Glaubwürdigkeit (der Autor versucht zwanghaft, keine Fantasywelt, sondern definitiv der naturwissenschaftlichen Basis treu eine SF-Welt zu kreieren) das gravierendste Problem der Geschichte ist, sondern vor allem die überaus martialische Prägung des Ganzen und die gigantischen Schlachten, bei denen im wahrsten Sinn des Wortes die Fetzen fliegen. Der Autor vertraut weder seinen Ideen noch der Exotik der Geschichte. Stattdessen gibt es eine gigantische Schlacht, ein blutspritzendes Gemetzel, was einfach plump und einfallslos wirkt. Und obwohl die Menschheit radikal dezimiert ist, haben die Überlebenden nichts Besseres zu tun, als übereinander her zu fallen und sich gegenseitig möglichst garstig und fulminant den Garaus zu machen. Dass dabei primitive Wilde, die garantiert weder von der Existenz von Klopapier wissen noch dieses Wort auch nur kennen könnten, mit Bazookas auf die Helden schießen und, obwohl mit Körperbemalung versehen trotz ihrer Nacktheit mit den modernsten Waffen bestückt sind (die auch alle nach dem Zusammenbruch noch funktionieren und gehandhabt werden können wie von Profis), gehört zu den wunderbaren Zumutungen, deren sich der Autor erdreistet.
Wer gerne sein Gehirn abschaltet oder gar nie ein brauchbares hatte, wer Gemetzel liebt und auch sonst martialisch Brutalowelten, der wird bei Sertakov voll auf seine Kosten kommen.
Da wo sich nach dem Zweiten Weltkrieg US-amerikanische und vor allem britische (aber auch deutsche) Autoren austobten in Post-Doomsday-Werken (man denke an Klassiker wie „Hieros Reise“ von Sterling E. Lanier, „Lobgesang auf Leibowitz“ von Walter M. Miller jr., „Leben ohne Ende“ von George R. Stewart, „Die Triffids“ von John Wyndham, „Das Tal des Lebens“ von John Christopher, „Ich bin Legende“ von Richard Matheson, „Einige werden überlebe“n von Algis Budrys, „Es grünt so grün“ von Ward Moore, „Davy“ von Edgar Pangborn, „Die Kinder des Saturn“ von Jens Rehn oder spätere Werke wie James Graham Ballards „Die Dürre“ und „Karneval der Alligatoren“, „Eis“ von Arnold Federbush, „Die Stadt unter dem Eis“ von Robert Silverberg oder deutsche Klassiker wie „Die Enkel der Raketenbauer „von Georg Zauner, „Der Untergang der Stadt Passau“ von Carl Amery und „Zeit der Wanderungen“ von David Chippers) durfte in der damaligen Sowjetunion ein solches Thema offiziell nicht aufgegriffen werden. Selbst die Strugatzkis, die, nachdem sie den Film „Das letzte Ufer“ bei einer der wenigen, abgeschirmten Vorführungen in der UdSSR gesehen hatten, etwas Ähnliches schreiben wollten, kamen wieder von diesem Thema ab beziehungsweise verlegten etwas ähnlich Dystopisches auf einen anderen Planeten und machten eine Naturkatastrophe aus der Bedrohung („Der ferne Regenbogen“). Erst unter Glasnost und Perestroika erschien mit „Briefe eines Toten“ zumindest der erste Spielfilm, welcher einen atomaren Holocaust zum Thema hatte, sich jedoch sehr ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzte (hier arbeitete Boris Strugatzki dann wieder am Drehbuch mit, die literarische Vorlage zum Film stammt von Wjatscheslaw Rybakow, würde zu Deutsch wahrscheinlich „Die Zeit ist gekommen“ heißen, wenn das Werk übersetzt wäre, und Rybakow hatte den Strugatzkis als Viertklässler einen Leserbrief geschrieben, in welchem er einige Dinge an „Der ferne Regenbogen“ kritisiert hatte, womit sich der Kreis wieder schließt).
Es ist deshalb kein Wunder, dass die russische SF hier großen Nachholbedarf hat. Und manchmal passiert sogar ein Wunder und ein Autor erschafft sogar in diesem ausgelutschten Untergenre der sogenannten Post-Doomsday-Geschichten noch ein absolutes Meisterwerk (so geschehen bei Dmitry Glukhovski, der mit „Metro 2033“ ein absolutes Highlight des Genres erschuf). Seitdem wird dieses Untergenre ständig bedient in der russischen SF, und wenn nicht Sertakov Ansätze zu wunderbaren Beschreibungen und interessanten Ideen zeigen würde, könnte man das vorliegende Buch einfach als eines der vielen Werke ablegen, in der niedrigste Bedürfnisse beim Leser befriedigt werden. Da der Autor aber durchaus packend erzählen kann und vor allem jene Sequenzen, in denen die gruselige Atmosphäre meisterhaft aufgebaut wird (also zu Beginn des Buchs oder auch bei jener Szene, als der Protagonist der entgleisten Flora ansichtig wird), sehr überzeugend geraten sind, ist es um so bedauerlicher, dass Sertakov wieder nur alte abgeschmackte Klischees bedient.
Und jetzt mal ehrlich: Wenn die Menschheit wirklich nur aus Idioten und gewalttätigen Barbaren besteht, warum sollte es dann so bedauerlich sein, dass sie endlich untergeht? Warum sollte man Artur Kowal die Daumen halten, wenn er schlussendlich doch alle Bösen auf althergebrachte Weise plattmacht? Worin unterscheidet er sich eigentlich von jenen, welche Blutfontänen spritzen lassen?
Schade um die schönen Ansätze, schade um die ein oder andere tolle Idee. Aber, wie gesagt, wer auf martilisch-blutrünstige Action steht, dem sei das Buch empfohlen, denn dieser Leser kommt hier voll auf seine Kosten. Und während sich die Russen Gedanken machen über arme Kinderseelen, die durch die öffentlichen Erwähnung von Homosexualität verdorben werden könnten, metzeln die SF-Autoren des Landes munter vor sich hin, denn die exzessive Darstellung von Gewalt ist ja sicherlich nicht schädlich, sondern dient lediglich der wohlfeilen Abhärtung des Volkskörpers und ist somit nur zu gesund! In diesem Sinne: Wohl bekommt’s!
Eigentlich gut, dass diese Zeiten in Deutschland seit 1945 vorbei sind (und hoffentlich auch bleiben)!