Esther Böminghaus (Hrsg.): Das neue Gänsehaut-Lesebuch (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Mittwoch, 03. April 2013 19:52
Esther Böminghaus (Hrsg.)
Das neue Gänsehaut-Lesebuch
Übersetzungen von Christian August Fischer, Franz Blei, Theodor Etzel, Andreas Vollstädt, H. C. Artmann, Lutz-W. Wolff, Friedrich Polakovics, Alexander Eliasberg und Ernst Sander
Titelgestaltung von Balk & Brmushagen und Lisa Höfner
dtv, 2013, Taschenbuch, 240 Seiten, 8,90 EUR, ISBN 978-3-423-14183-3
Von Irene Salzmann
„Der kopflose Reiter“ versetzt Ichabod Crane, den Protagonisten von Washington Irving, in Angst und Schrecken. Eigentlich hatte es ein schöner Abend werden sollen, denn eine junge Frau aus guter Familie machte dem Lehrer Hoffnung, gab ihm dann jedoch unerwartet einen Korb. Damit nicht genug, jagt ihn auf dem Heimweg der unheimliche Spuk, von dem nur hinter vorgehaltener Hand gemunkelt wird – und seither wurde Crane nicht mehr gesehen. Das Motiv lieferte die Inspiration unter anderem zu dem Film „Sleepy Hollow“.
„Die Geschichte von dem Gespensterschiff“ aus der Feder Wilhelm Hauffs kennt so mancher aus der einen oder anderen Märchensammlung. Nachdem ein junger Mann und sein Diener Schiffbruch erlitten, retten sie sich an Bord eines mysteriösen Schiffes, an dessen Bord sich jede Nacht dieselbe Tragödie abspielt. Der Kapitän und seine Mannschaft geraten in Streit, bringen sich gegenseitig um und liegen am Tag tot am Boden. Es ist unmöglich, die Leichen anzuheben und auf See zu bestatten. Es gelingt den beiden Passagieren, mit dem Schiff vor einer Küste zu ankern und einen weisen Mann zu finden, der ihnen raten soll.
Edgar Allen Poes „Der Untergang des Hauses Usher“ ist zweifellos eine der bekanntesten Erzählungen des Autors, wurde sie doch verfilmt und lieferte später immer wieder den Aufhänger für eine Hommage. Der Erzähler besucht seinen kranken Freund Roderick Usher in dessen heruntergekommenem Anwesen. Kurz darauf stirbt die Schwester des Hausherrn und wird von den Männern bestattet. In einer stürmischen Nacht ertönen seltsame Geräusche, und Lady Madeline steht plötzlich blutüberströmt vor ihnen.
„Der Traum“ von seinem unbekannten Vater sucht regelmäßig die junge Hauptfigur von Iwan S. Turgenjew heim. Zufällig begegnet er einem Baron, der jener Mann sein könnte. Die Mutter, die ihrem Sohn gegenüber stets zwischen Zuneigung und Ablehnung schwankte, vertraut ihm schließlich ein Geheimnis an, das einige Fragen beantwortet und neue aufwirft. Unverhofft findet er den Baron tot am Ufer, und kurz darauf ist die Leiche spurlos verschwunden.
„Die Nebeldroschke“ von Heinrich Seidel treibt ein böses Spiel mit ihrem Insassen – oder war alles nur ein Traum, geboren aus zu viel Alkohol?
„Die Tote“ von Guy de Maupassant wird so sehr geliebt, dass der Hinterbliebene einfach nicht von ihr lassen kann und ihr sogar ans Grab folgt. Aber ist sie diese Hingabe auch wert?
Edith Wharton schildert in „Die Glocke der Kammerzofe“ die Erlebnisse einer jungen Frau, die in einem Haus mit fragwürdigem Ruf eine Anstellung übernimmt. Ihre kränkelnde Herrin scheint von ihrem Mann schlecht behandelt zu werden, während ein Bekannter ihr ein wenig Trost schenkt. Aber noch seltsamer ist die Frau, die hin und wieder auftaucht, die jedoch außer der Protagonistin keiner zu sehen und kennen will.
H. P. Lovecrafts „Die Ratten im Gemäuer“ scheinen trotz der aufwändigen Sanierung überall zu sein und sich nicht vertreiben zu lassen. Schließlich führen sie den Besitzer des Anwesens in die Tiefe des Gebäudes und zu uralten Mysterien.
„Das Puppenhaus“ von M. R. James erwacht zu unheimlichen Leben, woraufhin sich in ihm eine Tragödie wiederholt, die sich tatsächlich zugetragen hat.
F. Scott Fitzgerald offenbart in „Ein kurzer Trip nach Hause“, dass sich zwei Spielkameraden aus Kindheitstagen entfremdet haben. Ursache scheint ein anderer Mann zu sein, den die junge Frau kennenlernte, und der offenbar nichts Gutes im Schilde führt.
„Das neue Gänsehaut-Lesebuch“ liest sich praktisch wie das „Who’s Who?“ der Gothic Novel und des subtilen Horrors. Zweifellos kennt man einige Geschichten bereits aus anderen Kompendien und Anthologien, doch bietet auch diese Zusammenstellung gewiss noch so manche unbekannte Story bzw. frischt sie die Erinnerung an Erzählungen auf, deren Lektüre schon länger zurückliegt.
Der Band wendet sich an die Freunde des gepflegten Grauens, das die Dinge nicht unbedingt beim Namen nennt, sondern Spannung und Grusel durch Andeutungen und eine unheilschwangere Atmosphäre erzeugt. Infolgedessen sind die Geschichten von einem gänzlich anderen Kaliber als viele des ‚modernen‘ Horrors, die auf Gänsehaut mit Hilfe der ‚Holzhammer-Methode‘ (eimerweise Blut, rollende Augenkugeln, zerfetztes Gedärm, spritzendes Hirn…) setzen. Nebenbei lassen die Autoren vergangene Zeiten lebendig werden und bauen durchaus sozialkritische Aussagen ein, zum Beispiel Edith Wharton, die das harte Leben junger, mittelloser Frauen thematisiert, die auch in einer ordentlichen Anstellung ausgebeutet werden und einiges erdulden müssen. Bei ihren Kollegen ist dieser Aspekt lediglich ein Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens, der gewisse Rahmenbedingungen für die Handlung vorgibt.
Schätzt man die Werke der fantastischen Altmeister, wird man an dieser Anthologie große Freude haben und durch sie bestimmt noch einige Autoren entdecken, die einem bislang weniger bekannt waren und von denen man mehr lesen möchte.