David Mitchell: Der Wolkenatlas (Buch)

David Mitchell
Der Wolkenatlas
(Cloud Atlas, 2004)
Aus dem Englischen von Volker Oldenburg
Rowohlt, 2007/2012, Taschenbuch, 668 Seiten, 9,99 EUR, ISBN 978-3-499-24141-3

Von Armin Möhle

Passend zum Start des gleichnamigen Films in den hiesigen Kinos brachte rororo „Der Wolkenatlas“ als Neuausgabe heraus, die sich lediglich durch das Titelbild – dem Filmplakat – von der ‚gewöhnlichen‘ Taschenbuchausgabe unterscheidet. Wer Filmfotos erwartet, wie es oft in einem sogenannten ‚Buch zum Film‘ üblich ist, wird enttäuscht: Sie fehlen komplett. Dafür ist die Sonderausgabe nicht teurer geworden. Und ohnehin handelt es sich nicht um ein ‚Buch zum Film‘, sondern vielmehr um einen ‚Film zum Buch‘.

„Der Wolkenatlas“ ist ein Episodenroman. Die Einzelgeschichten werden in jeweils zwei Teilen erzählt, von einer abgesehen. Zwei der insgesamt sechs Episoden sind Science Fiction.

Die Episoden sind chronologisch angeordnet und beginnen mit „Das Pazifiktagebuch des Adam Ewing“, das etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Pazifik spielt. Der US-amerikanische Anwalt Adam Ewing ist auf dem Rückweg in die USA. Bei einem Zwischenstopp des Seglers lernt er den Arzt Henry Goose kennen, der ihn auf der weiteren Reise begleiten wird. Nachdem das Schiff wieder in See gestochen ist, offenbart sich Ewing der Moriori Autua, der als blinder Passagier an Bord gelangte. Ewing rettet ihn vor dem Zorn des Kapitäns. Gleichzeitig verschlechtert sich der gesundheitliche Zustand Ewings; Henry Goose hat bei ihm einen tropischen Wurm diagnostiziert, den er mit seinen Medikamenten behandelt.

Die „Briefe aus Zedelghem“ stammen aus dem 20. Jahrhundert (1931, um genau zu sein). Der junge Komponist Robert Frobisher flieht aus England nach Belgien, wo er eine Unterkunft und eine Anstellung bei dem bekannten, alternden Komponisten Vyvyan Ayrs findet. Er unterstützt Ayrs bei seiner Arbeit, nutzt aber die Gelegenheiten, seine eigenen Kompositionen fortzuführen, stiehlt wertvolle Bücher aus der Bibliothek seines Arbeitgebers und beginnt eine Affäre mit dessen Frau.

„Halbwertszeiten. Luisa Reys erster Fall“ (1975) beginnt mit einem Fahrstuhlausfall. Die Journalistin Luisa Rey verbringt in dem Aufzug einige Stunden mit dem alternden Atomwissenschaftler Rufus Sixsmith, der Vertrauen zu ihr fasst und ihr von einem Bericht erzählt, den er für den Seaboard-Konzern verfasst hat, der einen neuartigen Atomreaktor auf dem Swannekke Island vor der Küste Kaliforniens errichtet hat. Sixsmith hält den Reaktor für nicht sicher, doch der Seaboard-Konzern will das Kraftwerk um jeden Preis in Betrieb nehmen. Rufus Sixsmith wird ermordet, doch Luisa Rey gelingt es, eine Kopie seines Berichts von seinem Assistenten Isaac Sachs zu erhalten. Auf dem Rückweg von Swannekke Island wird Luisa Rey in ihrem Auto von der Brücke gedrängt.

„Das grausige Martyrium des Timothy Cavendish“ spielt sich in der Gegenwart ab. Timothy Cavendish ist ein mehr oder minder erfolgloser Verleger, der sich seinem Lebensabend nähert. Erst mit dem Roman „Faustfutter“ gelingt ihm der große Wurf – im Sinne des Wortes, und nur, weil der Autor einen Kritiker vom Balkon mehrere Stockwerke tief hinab wirft. Cavendish saniert sich finanziell, doch dann tauchen die Brüder des Autors bei ihm auf und fordern drastisch ihren Anteil an den Einnahmen. Cavendish flieht. Sein Bruder Denholme vermittelt ihm eine Unterkunft in dem ‚Haus Aurora‘, das Cavendish zunächst für ein Hotel hält. Doch es ist ein Altersheim, das seine Bewohner wie Gefangene behandelt.

„Sonmis Oratio“ ist die erste Episode, die in der Zukunft angesiedelt ist. Die Duplikantin Sonmi~451 ist Bedienerin in einem Schnellrestaurant des Papa-Song-Konzerns, der wiederum Bestandteil der Konzernokratie ist, die Korea beherrscht. Eine Kollegin Sonmis, Yoona~939, beginnt Interesse für die Welt außerhalb des Papa-Song-Restaurants zu entwickeln – was ihr als Klon nicht nur verboten ist, sondern wozu sie auch gar nicht in der Lage sein sollte. Yoona~939 weiht Sonmi~451 in ihre Geheimnisse ein. Nach dem Tod Yoonas wird Sonmi aus dem Restaurant geholt. Sie erweist sich als Bestandteil eines Experiments, mit denen der intellektuelle ‚Aufstieg‘ von Duplikanten initiiert werden soll. Sie darf sogar an der Taemosan-Universität studieren, muss jedoch fliehen, als ihr Mentor verhaftet wird.

„Sloosha’s Crossin’ un wies weiterging“ spielt in einer noch weiter entfernteren Zukunft, kehrt aber in die Südsee zurück. Die Zivilisation ist zusammengebrochen. Auf Hawaii hat sich eine Gesellschaft erhalten, wie technisch und kulturell weit zurückgefallen ist, von den kriegerischen Kona bedroht wird, sich aber Erinnerungen an die Vergangenheit bewahrt hat. Die Menschen in den Neun Tälern treiben Tauschhandel mit den hoch technisierten Prescients, die regelmäßig mit einem Schiff vor der Küste erscheinen. Als die Prescients erneut eintreffen, schlagen sie den Bewohnern der Neun Täler einen weiteren Handel vor: Sie wollen Meronym, eine Frau auf ihren Reihen, für sechs Monate bei ihnen zurücklassen. Der Ziegenhirte Zachry misstraut Meronym, willigt aber ein, sie in das (verlassene und verfallene) Observatorium auf dem Mauna Kea zu begleiten. Später erfährt er von Meronym das Geheimnis der Prescients und den Grund für Meronyms Aufenthalt auf Hawaii. Diese Episode ist die einzige, die in einem Stück erzählt wird. Ihr schließen sich die übrigen Einzelgeschichten an, in umgekehrter Reihenfolge.

Stilistisch ist David Mitchell brillant. Die Titel mancher Episoden deuten bereits auf die Technik hin, die der Autor anwandte. So ist „Das Pazifiktagebuch des Adam Ewing“ als Tagebuch verfasst (das dem Stil der Epoche, in die die Handlung eingebettet ist, folgt) und die „Briefe aus Zedelghem“ sind in der Tat Schreiben, die Robert Frobisher an seinen Freund und Liebhaber Rufus Sixsmith schickt. „Halbwertszeiten. Luisa Reys erster Fall“ ist im knappen und prägnanten Stil eines Krimis verfasst, „Das grausige Martyrium des Timothy Cavendish“ mutet memoirenhaft an, wie ein Rückblick vom Ende eines Lebens. „Sonmis Oratio“ wird in Form eines Verhörprotokolls erzählt, und „Sloosha’s Crossin’ un wies weiterging“ stellte sicherlich die größten Anforderungen an den Autor (und an den Übersetzer): ein Monolog Zachrys, für den Mitchell die heutige Sprache verfremdete.

Es existieren nur wenige direkte Verbindungen zwischen den Episoden aus „Der Wolkenatlas“: So ist der Rufus Sixsmith, dem Robert Frobisher die „Briefe aus Zedelghem“ schreibt, derselbe, den Luisa Rey im Fahrstuhl in „Halbwertszeiten. Luisa Reys erster Fall“ begegnet. Ansonsten sind die Verweise zwischen den Einzelgeschichten eher indirekt: Robert Frobisher findet das (zunächst unvollständige) Tagebuch Adam Ewings. Timothy Cavendish liest während seiner Flucht aus London ein Manuskript, das den Titel „Halbwertszeiten. Luisa Reys erster Fall“ trägt. Sonmi~451 sieht Cavendish' Odyssee als Verfilmung und wird in „Sloosha’s Crossin’ un wies weiterging“ als Göttin verehrt.

Gemeinsam ist den Protagonisten ein kometenähnliches Muttermal, das sie auf der Schulter tragen. Der Titel des Romans leitet sich aus dem ‚Wolkenatlas-Sextett‘ ab, dem genialen Werk, das Robert Frobisher in „Briefe aus Zedelghem“ komponiert. Und das Luisa Rey in einem Schallplattengeschäft ersteht.

Das zentrale Motiv in den Episoden ist das der Verantwortung: In „Das Pazifiktagebuch des Adam Ewing“ gegenüber dem Moriori Autua, den Ewing rettet, im Speziellen und den unterdrückten Völkern jener Epoche im Allgemeinen. Robert Frobisher zeigt sich in „Briefe aus Zedelghem“ als Opportunist und Egoist, der daraus seine persönliche Konsequenz zieht. „Halbwertszeiten. Luisa Reys erster Fall“ wirft für die Protagonisten die Frage auf, ob sie der Wahrheit wegen in Kauf nehmen, getötet zu werden. „Das grausige Martyrium des Timothy Cavendish“ konfrontiert den Protagonisten mit den Konsequenzen aus seinen früheren Handlungen. „Sonmis Oratio“ greift ein klassisches Motiv der Science Fiction auf, nämlich, ob Androiden, Duplikanten, Klone oder Replikanten genauso menschlich sind wie ihre Schöpfer. Oder es sein dürfen. In „Sloosha’s Crossin’ un wies weiterging“ stellt sich die Frage nach der Zukunft der Menschheit. Katastrophen suchen die Bewohner Hawaiis und die Prescients heim, doch die Episode endet optimistisch.

Der Film hält sich nah an den Roman. Die Rahmenhandlung, die in der Verfilmung mit Meronym und (vor allem) Zachry gebildet wurde, fehlt in dem Roman ebenso wie die Action-Orgien im Pendant von „Sonmis Oratio“. Auch auf die Hochtechnologie (außerirdischen Ursprungs?!), auf die Meronym in dem Film trifft (auch auf Mauna Kea), findet in dem Roman kein Vorbild. Bei diesen Abweichungen bleibt es immerhin.

„Der Wolkenatlas“ ist als Roman eine vielfältige, komplexe und faszinierende literarische Reise durch die Epochen. Das gilt mit Abstrichen auch für die Verfilmung, doch hier geht es um das Buch, nicht wahr?