The Magazine of Fantasy and Science Fiction: März/April 2012 (Buch)

The Magazine of Fantasy and Science Fiction
März/April 2012

Von Thomas Harbach

Vor einigen Jahren hat Herausgeber Gordon van Gelder die Erscheinungsweise des ehrwürdigen „The Magazine of Fantast & Science Fiction” von elf Ausgaben pro Jahr auf sechs – allerdings umfangtechnisch als Doppelnummern zu bezeichnende – Hefte umstellen müssen. Trotzdem liegt mit der März/April 2012 Ausgabe die insgesamt 700. Nummer dieses vor 63 Jahren gegründeten und jahrelang die eher intellektuelle Kurzgeschichte im Vergleich zu den technisch orientierten „Analog” und „Isaac Asimov’s Science Fiction Magazin” repräsentierten Magazins vor. Der Herausgeber verzichtet auf eine exklusive Sondernummer und präsentiert eingeleitet von dem etwas zu grellen „Electrica”-Cover eine eher durchschnittliche Ausgabe.

Sean McMullens „Electrica” ist eine klassische Variation des „Frankenstein”-Mythos’ in Verbindung mit einer angedeuteten Alternativwelt. Ein Codespezialist wird während des englisch- spanischen Krieges Anfang des 19. Jahrhunderts zum Erfinder einer drahtlosen Nachrichtenübertragung geschickt, um den taktisch strategischen Vorteil dieser Erfindung einordnen zu können. Der Erfinder erweist sich als abweisender, exzentrischer und hoc verschuldeter Lord mit einer sehr attraktiven Frau, die ein Auge auf den Gast wirft. McMullen entwirft auf den ersten Seiten dank des Ich- Erzählers ein überzeugendes, sehr lebensechtes Portrait dieser Alternativwelt, um in der zweiten Hälfte den Ideen des Steampunks zu folgen und Frankensteins Konzept vom künstlichen Leben mit einer implizierten alten, vom Aussterben bedrohten Rasse zu verbinden. In der Theorie ein überzeugender Ansatz, der aufgrund des eher schwachen Endes mit der fast obligatorischen, alle Spuren beseitigenden Feuersbrunst und dem ominösen Ausblick in die Zukunft fast negiert wird. Dagegen sind die Figuren erfrischend exzentrisch gezeichnet und nur selten verbindet sich eine archaische Science-Fiction-Handlung mit den Regeln der hohen Duellierkunst so effektiv. Trotz des vielleicht ein wenig zu konstruierten Endes eine interessante, stilistisch sehr überzeugend geschriebene Kurzgeschichte.

Michael Blümleins „Twenty-Two and you“ nimmt sich auf ungewöhnliche aber auch originelle Art und Weise der Genmanipulation am lebenden und für sich selbst entscheidungsfähigen Objekt an. Eine neue Methode des Wiederaufbaus der Gene und damit des Ausschlusses von akuten Krankheiten wie Krebs ermöglicht eine neue Art der Therapie, wobei die Folgen noch nicht hinreichend analysiert worden sind. Für ein Ehepaar bedeutet der Kinderwunsch ein sicheres Ausbrechen von Brustkrebs bei der werdenden Mutter. Nach der Gentherapie stellt das Paar fest, das die Folgen zwar nicht für die Gesundheit, aber den Zusammenhalt der Ehe ebenso tödlich sind. In einem ruhigen, sehr emotionslosen Stil greift Blümlein eine Reihe von akuten Themen auf und fügt ihnen eine neue, originelle, wissenschaftlich aber eher oberflächlich entworfene Komponente hinzu. Am Ende sucht der Autor eine bittersüße Schlussnote, welche den überzeugend entworfenen Charakteren Unrecht tut.

So sehr sich Albert E. Cowdrey in „Greed“ – vielleicht eine Hommage an Erich von Stroheims berühmten Stummfilm? – auch bemüht, eine bizarre Atmosphäre aufzubauen, so sehr leidet seine Geschichte ab der Hälfte unter der Vorhersehbarkeit. Als ein ehemaliger Studienkollege bei dem Hausmeister eines für Pilgerfahrten genutzten nachgebauten Schlosses um Obdach nachsucht, entwickelt dieser einen perfiden Plan, um an dessen unterschlagene Gelder zu kommen. Während der Plot im Grunde enttäuscht und vor allem viel zu einseitig sowie zu wenig den Leser auf falsche Bahnen lenkend angelegt worden ist, hält der interessante Hintergrund – ein perfektes Spukschloss, in dem neben dem SF Channel auch ein Kanal mit alten, zweitklassischen Streifen wie „Revenge of the Nerds“ rund um die Uhr ausgestrahlt wird – die Story auf einem durchschnittlichen Niveau. Ein viel größeres Problem ist, das die beiden relevanten Protagonisten ausgesprochen unsympathisch angelegt worden sind und die Tötungsmethode eher aus dem Nichts gegriffen erscheint. Eine von Cowdreys schwächsten Kurzgeschichten.

KJ Kabza bezeichnet seine längere Arbeit „Gnarly Times at Nanatte Beach“ selbstironisch als Beachpunk. Dieser Untertitel ist nicht einmal verkehrt, da in einer fernen Zukunft selbst die Wellen vor Hawai per Computer simuliert sind. Dafür dürfen die Surfer ihre Bretter nicht mit elektronischen Zusatzelementen versehen. Als ein Surfer und Hacker die Codes bricht, um einen Wettbewerb zu gewinnen, bricht natürlich das Chaos aus. Kabzas Geschichte ist weniger subtil als humorvoll. Er parodiert das elitäre Verhalten der Surfer und extrapoliert es in eine auf ein Minimalformat reduzierte „Matrix“-Zukunft, um seinen Charakter zu Erkenntnis kommen zu lassen, das nur das Original erstrebenswert ist. Nach einem eher phlegmatischen Auftakt nimmt die Geschichte deutlich Tempo auf, um in ihrem furiosen Finale zu gipfeln, das aber angesichts der Moral am Ende nicht ganz befriedigen kann.

Peter S. Beagle kann nicht von Einhörnern lassen. In „Olfert Dapper’s Day“ berichtet der Amerikaner von den Abenteuern des Lebemanns Olfert Dapper, der im frühen 19. Jahrhundert wie Karl May Reiseberichte nur aus dem Sessel vom heimischen Wohnzimmer aus verfasst hat oder als Arzt praktizierte, ohne außer ein paar Stunden im Wartezimmer je ein Studium absolviert zu haben. Er erweckt die Aufmerksamkeit von ein paar aufrechten Utrechter Nachbarn und muss in die USA fliehen, wo er die Freundschaft der Indianer erringt, sich als Kräuterarzt verdingt und schließlich auf einer Lichtung auf ein Einhorn trifft, das ihn zusammen mit der Frau des örtlichen Pfarrers in Schwierigkeiten bringt. Peter S. Beagle hat eine abenteuerliche Münchhausen-Geschichte verfasst, in welcher der nicht unbedingt dumme, aber bequeme Protagonist Dapper herausragt. Ein Tunichtgut mit einem Herz aus Gold, der eher aufgrund seiner pragmatischen Lebenseinstellung immer wieder aneckt. Die phantastischen Elemente beschränken sich auf die Begegnung mit einem Einhorn, die auch der Phantasie entsprungen sein kann. Die ganze Novelle ist vielleicht ein wenig zu lang und stilistisch zu selbstverliebt, wer sich aber auf Olfert Dapper einlässt, wird überdurchschnittlich gut unterhalten.

Tim Sullivans „Repairman“ eröffnet den Reigen von insgesamt sieben kürzeren Texten. Eine First-Contact-Geschichte, die nach dem Selbstmord des Ehemanns erst richtig beginnt. Auch wenn diese von Dialogen getriebene Geschichte einige wenige originelle Ideen und ein sehr positives offenes Ende enthält, fällt ein überzeugend aufgearbeiteter Hintergrund auf, aber an vielen Stellen frustrieren die zahlreichen Andeutungen mehr als dass sie die elementare emotionale Ebene bereichern.

Wie in Albert E. Cowdreys „Greed“ geht es in Robert Reeds Geschichte „One Year of Fame“ um die Veränderungen, die von außen in kleine, abgeschiedene Gemeinden getragen werden. Künstliche Intelligenzen, als Spielzeug für die Superreichen konzipiert, entdecken in einer kleinen Kolonie einen längst vergessenen Schriftsteller. Mit ihren beharrlichen Fragen animieren sie ihn, wieder zu schreiben. Robert Reed ist ein sehr guter Pointen-Autor, der auf den letzten Metern den Plot seiner Texte umdreht; das Publikum provoziert oder aus einer unterhaltsamen Story eine bitterböse Farce macht. Vielleicht ist „One Year of Fame“ eine Satire auf den Medienzirkus, der immer mehr Autoren zu kurzzeitigen Superstars macht, ohne dass ihre literarischen Arbeiten diesen Ansprüchen gerecht werden. Vielleicht will Reed in seiner Arbeit auch nur zeigen, das fast alle Autoren über die fünfzehn Minuten Ruhm dankbar sein sollen. Irgendwo zwischen diesen Extremen liegt vielleicht die Wahrheit, aber im Gegensatz zum ironisch getragenen Erzählstil wirkt die Plot-Konstruktion überambitioniert und vor allem verfügt die Story nicht über eine sympathische wie zugängliche Identifikationsfigur, um überzeugen zu können.

„Demiurge“ von Geoffrey Landis nimmt sich in noch kompakterer Form der Idee des Literaten und Kultobjektes an, wobei der Autor eine Reihe von Behauptungen aneinanderreiht, ohne diese wirklich mit einer Handlung zu verbinden. Die Pointe fällt erstaunlich flach aus, eine Charakterisierung findet nicht statt. Alleine die satirischen Seitenhiebe auf den Medienzirkus im Allgemeinen und das Groupie- Verhalten der Leser im Besonderen seien herausgehoben.

In eine ganze Richtung zielt Steven Utleys „The Tortoise Grows Elate“. Eine Gruppe von Archäologen reist in die Vergangenheit, wo sich mehr mit einem auskömmlichen Zusammenarbeiten und Jane Austen auseinandersetzen müssen. Steven Utley verfügt über einen angenehm zu lesenden Stil und die Ich- Erzählerin kommentiert das Geschehen durchaus selbstironisch, wobei der eigentliche Plot zu wenige originelle Ideen enthält, um überzeugen zu können.

Richard Bowes präsentiert mit „The Queen and the Gambion“ die erste Fantasy-Story dieser Ausgabe. Königin Victoria ruft zu Beginn ihrer Regentschaft Merlin an, der sie in den folgenden sechzig Jahren bei einer Reihe von Entscheidungen unterstützt. Die platonische Liebe zwischen der beliebten Königin und dem noch jungen Magier wird von Bowes einfühlsam ohne Pathos beschrieben. Merlin kann nicht nur zwischen der Vergangenheit mit der deutlich weniger glorreichen Phase der Herrschaft König Arthurs und der Gegenwart des frühen 19. Jahrhunderts hin und her wechseln, die ferne Zukunft des 23. Jahrhundert mit einer immer noch regierenden Königin beginnt ihn zu verführen. Es ist das Ende der Geschichte, das dem Leser länger im Gedächtnis bleibt. Der Stabwechsel – populär gemacht durch den exzellenten „The King´s Speech“ – erfolgt anrührend, aber ohne Kitsch. Richard Bowes braucht in Bezug auf die Strukturierung der Geschichte ein bisschen Raum, um erstens die richtige Balance zu finden und sich zweitens in die Figuren ein zu denken. Es lohnt sich, die entsprechende Geduld aufzubringen. Eine der besten Geschichten dieser Ausgabe.

Der Titel der Kurzgeschichte „The Man who Murdered Mozart“ ist provokativ. Robert Walton und Barry N. Malzberg machen aber entweder zu viel oder zu wenig aus dem Plot. In der Zukunft ist es möglich, in die Vergangenheit zu reisen. Der Protagonist hat sich vorgenommen, in zwei Wochen vor einem ausgewählten Publikum Stücke von Mozart zu präsentieren. Sein musikalisches Talent strebt aber gegen Null. Also will er in der Vergangenheit Mozart vom Sterbebett in die Zukunft entführen, ihn in der Vergangenheit durch einen Klon ersetzen und schließlich dank eines in der Zukunft vollendeten Musikstückes seine eigenen Schwächen überdecken. Auch wenn die Details der Geschichte interessant und stimmig extrapoliert sind, verlieren sich die Autoren schließlich in ihrer Prämisse und schaffen es nicht, ihre unsympathischen Figuren irgendwo authentisch zu beschreiben. Am Ende steht sehr viel hintergrundtechnischer Rauch einer wenig befriedigenden Handlung gegenüber, die auf Novellenlänge erweitert und inhaltlich etwas ambivalenter beschrieben eher überzeugt hätte.

Eine durchgeplante digitale Zukunft beschreibt C. S. Friedman in „Perfect Day“, wobei erstaunlicherweise die einzige gute Idee – der Ich- Erzähler sieht einen Moment alle Menschen nackt – in dieser durchgestylten Story zu wenig ausgearbeitet erscheint. Wie die künstliche Intelligenz macht sich der Erzähler im Verlaufe seines normalen Tags zu wenig Gedanken über diese Absonderlichkeit. Der Hang zur perfekten Kontrolle, dem Sammeln von Pluspunkten und schließlich das langweilige Tagesgeschäft des Erzählers wirken eher kontraproduktiv, so dass „Perfect Day“ ambitioniert, aber auch zu oberflächlich erscheint.

Abgerundet wird „The Magazine of Fantasy & Science Fiction“ durch die regulären Kolumnen. Charles de Lint stellt eine Reihe von überwiegend Fantasy-Romanen und Comics auf eine ausgesprochen persönliche Art und Weise vor, während Chris Moriarty als Gegenpol sich sachlicher um markante Science-Fiction-Romanen kümmert. Abgeschlossen wird jede Ausgabe mit einem Blick auf ein kurioses Buch, das der Öffentlichkeit entgangen ist. Nicht selten werden frühere Klassiker der Phantastischen Literatur ein wenig oberflächlich vorgestellt, von Rezensieren kann keine Rede sein. Lucius Shepard dominiert seit vielen Jahren die Filmkolumne des Magazins. Auf seine kritische, aber pointierte Art und Weise stellt er eine Reihe von Filmen vor, wobei frustrierend die Kolumne mit einer Vorschau auf „The Iron Sky“ endet. Ein Film, den Shepard entweder liebt oder verdammen wird. Bei ihm gibt es selten ein Mittelmaß, wobei seine Rezensionen über eine erstaunliche Tiefe verfügen. Paul di Filippos zynische Kolumnen sind Geschmackssache. Nicht selten nimmt er den Literaturzirkus sehr pointiert und bitterböse auf die Schippe. Manchmal liegt er mit seinen egozentrischen Kommentaren aber auch weit daneben und versucht einen unoriginellen Text dank der letzten Absätze zu retten. Die vorliegende Kolumne „Pimp my Read“ ist dagegen ein Volltreffer. Bitterböse karikiert der Autor das die Lesungen zu einer Nebensache machende Umfeld, das eher Sensationen denn Literatur haben möchte.

Im Vergleich zu den Ausgaben des Jahres 2011 halten sich Science-Fiction- und Fantasy-Geschichten inklusiv eines kurzen Abstechers in den Bereich der Lyrik die Wage. Die Qualität der gesammelten Texte ist allerdings nicht ganz befriedigend, nicht selten werden die interessanten Ideen eher oberflächlich abgehandelt oder von eindimensionalen Charakteren zu wenig unterstützt. Aus der Anzahl von Kurzgeschichten ragen Peter S. Beagles, Richard Bowes sowie Sean McMullens Arbeiten zum Teil deutlich heraus.