Charles Stross: Du bist tot (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Donnerstag, 12. April 2012 15:59
Charles Stross
Du bist tot
(Halting State, 2007)
Aus dem Amerikanischen von Ursula Kiausch
Heyne, 2010, Taschenbuch, 544 Seiten, 9,95 EUR, ISBN 978-3-453-52687-7 (auch als eBook erhältlich)
Von Thomas Harbach
Charles Stross’ Cyber-Thriller „Du bist tot” ist in England schon 2007 erschienen. Während der Lektüre hat der Leser an mehreren Stellen das unbestimmte Gefühl, als sei das Buch auf der einen Seite sehr viel älter und zeigt eine virtuelle Irrealität, die eher auf Fassbinders Streifen „Welt am Draht” basieren könnte, auf der anderen -positiven – Seite gelingt es Stross, eine interessante Variation der Second-Life-Ebene in eine mögliche, aber paranoide Zukunft zu extrapolieren.
Der deutsche Titel „Du bist tot” zielt eher auf die Spieler-Kultur mit ihren imaginären Kämpfen, während der englische Titel („Halting State”) in mehrfacher Hinsicht die verschiedenen angesprochenen Dimensionen und ihre interaktive Bedeutung karikiert.
Was den Hintergrund seiner Geschichte – sie spielt in einem futuristischen Schottland, das sich von seinem Mutterland politisch wie wirtschaftlich abgelöst hat – angeht, so beschreibt der Autor eine Art zweite Realität, in welcher die Überwachung des Individuums nicht nur zu etwas Alltäglichem geworden ist, sondern von den einzelnen Bewohnern/Spielern aktiv gefördert wird. Nicht aus Naivität, sondern weil sie inzwischen in der modernsten Kommunikationstechnik sich derartig verankert haben, dass ein Herauslösen im Grunde den „virtuellen” Tod bedeutet. Die politische Implikation ist vielleicht insbesondere hinsichtlich der Plot-Extrapolation aufgesetzt.
Die Regierungen – ein von Stross zu allgemein verwandter Begriff, der in erster Linie auf die Homeland Security der Amerikaner zielt, auch wenn die Geschichte im alten Europa spielt – haben die multiplen Onlinespiele für sich entdeckt. Nicht um den Dritten Weltkrieg zu gewinnen oder unliebsame politische Systeme aus den Angeln zu heben, sondern als Rekrutierungsquelle zahlloser williger Idioten, die unwissentlich ihr Wissen und viel schlimmer ihre Programmierfähigkeiten in den Dienst der Behörden stellen, während sie in einer geschickten Umkehr der virtuellen Welten der Ansicht sind, nur Strategiespiele zu spielen.
Sowohl die Idee von virtuellen Welten, von denen die Menschen nichts wissen, sowie die Verbindung von Spiel und Realität sind nicht neu. Da reicht das Spektrum von der literarischen Vorlage zu „Welt am Draht” über die „Matrix”-Streifen bis zu William Gibsons vielleicht etwas zu prophetisch belehrend geschriebenem Roman „Quellcode”. Was die Idee von Strategiespielen angeht sei nur auf John Badhams „Wargames” verwiesen.
Charles Stross gehört zu der jüngeren Autoren-Generation, der es phasenweise brillant gelingt, aufgrund der gegenwärtigen Computer- und Internet-Technik, dem Lemmingverhalten der Communities und schließlich dem brüchigen Fundament einer sozial aus den Fugen geratenen Gesellschaft einen Elfenbeinturm zu bauen, der auch ein „normales”, nicht über differenziertes Computerwissen verfügendes Publikum anspricht. Es ist ein schmaler Grat, auf dem sich der Autor im vorliegenden Buch bewegt, aber es ist ein Grat, auf dem der Leser wandern kann. Nicht selten unterbrechen die Charaktere in der ungewohnten „Du” Form handelnd und damit den Leser stellvertretend für die Protagonisten ansprechend den Plot und erklären den ermittelnden Polizisten die wichtigsten Aspekte dieser – zynisch gesprochen – selbst gewählten neuen Welt. Dabei bemüht sich Charles Stross, die meisten Informationen allgemeinverständlich darzureichen, nur manchmal gleitet er in die Freaksprache ab und isoliert sich von seinem Publikum.
Mit der erfahrenen wie desillusionierten Polizisten Sue Smith verfügt der Roman inklusiv des Neulings an ihrer Seite über einen fast klassischen, immer am Rande des Klischees sich bewegenden Protagonisten. Zuviel Arbeit, zuviele Überstunden, zuwenig Erfolge und kein Privatleben. Sue Smith ist der Anker der Realität, indem der Leser in ihr das Bild des Ermittlers wiedererkennt, der jeden Abend über die Bildschirme des Fernsehens flimmert. Eher durch einen Unfall denn Absicht wird sie zu einem der größten Spielkonzerne gerufen. Hier werden virtuelle Welten für tausende, wenn nicht gar Millionen von Spielern unterhalten. In eine der virtuellen Banken ist ein Haufen Orks mit den passenden Codewörtern eingedrungen und hat durch eine „Hintertür” insgesamt 26 Millionen Euro verschwinden lassen. Was in der Virtualität beginnt, hat dramatische Auswirkungen auf die reale Welt. Die Konzernlenker ängstigen sich vor dem Konkurs der eigenen Firma, dem Zusammenbruch der Aktienkurse und den fehlenden Erklärungen gegenüber den bestohlenen Kunden. Zusätzlich verschwindet der für diese Spielwelt verantwortliche Programmier spurlos. Elaine Barnaby ist eine für den Diebstahl verantwortliche Versicherungsagentin, die zusammen mit dem von ihr angeheuerten Programmierer Jack Reed ebenfalls die Ermittlungen in diesem Fall aufnimmt. Schnell lernen die drei sehr unterschiedlichen Charaktere, dass die Spuren scheinbar – auch eine der ironischen Verführungen Charles Stross – in die höheren, aber nicht höchsten Regierungsetagen führen.
Auch wenn Charles Stross’ Erklärungen hinsichtlich der Übertragung von virtuellem Geld in die reale Welt gewöhnungsbedürftig sind und sie sich gegen Ende des Buchs zynischerweise als nicht ganz richtig herausstellen, ist die Ausgangsprämisse originell, intelligent und sarkastisch extrapoliert zugleich. Ein Bankraub in der Virtualität kann schwerwiegende Folgen auf die Realität haben, derer sich weder der Leser noch die Protagonisten sicher sein können.
„Du bist tot” ist ein sehr unterhaltsamer Roman, der erstaunlicherweise immer auflebt, wenn der Autor Exzesse der Gegenwart bitterböse extrapoliert und karikiert. So müssen die Ermittler eine Spielemesse besuchen, die erst durch das Aufsetzen entsprechender Brillen und den „Einstieg” in die zweite Ebene zum Leben erwacht. Hier sollen die ersten gestohlenen Waren über das Internet veräußert werden. Dass die grundlegende Idee mehr und mehr zu einer Art MacGuffin für die verschiedenen Botschaften wird, die der Autor nicht immer unterschwellig und nicht immer wirklich ins Ziel treffend unter das Volk streut, wirkt im Verlaufe des Plots kontraproduktiv. Am Ende ist Charles Stross gezwungen, zu einer Art Erklärungsmarathon anzusetzen, in dessen Verlauf in bekannter Detektiv-Roman-Mentalität eine Unstimmigkeit nach der anderen aufgelöst und der in Frage kommende Verdächtige quasi gestellt wird. Dazwischen liegen neben dem Verschwinden noch einige wenige Morde, mit denen Stross auf die einfachste, aber nicht immer effektivste Art und Weise die Spannungskurve anzuziehen sucht. Dieser Übergang vom perfekten Coup zu einer eindringlichen Spionage-Geschichte – und vielleicht ein wenig überraschend wieder – zurück sind dem Autoren gut gelungen. Nicht nur aufgrund der unterschiedlichen Perspektiven befindet sich der Leser insbesondere im Vergleich zu den ermittelnden Figuren stetig auf der Augenhöhe des Geschehens, wobei er nicht im Vergleich zu einigen Charakteren weiß, ob er sich noch in der Realität Edinburghs vielleicht zwanzig Jahre in der Zukunft befindet oder inzwischen eine perfekte Illusion um ihn herum aufgebaut worden ist. Diese Desorientierung hätte vielleicht noch ein wenig mehr ausgearbeitet werden können, zumal auch der stellenweise liebevoll detailliert gestaltete Hintergrund nicht kontinuierlich durchgehalten wird.
Gehörten in seinen ersten in ferner Zukunft spielenden Romanen die Charaktere zu den schwächsten und teilweise zu holzschnittartig gezeichneten Gliedern seiner Vision, ist es ihm im vorliegenden Roman zufriedenstellend gelungen, interessante wie unterschiedliche Figuren zu erschaffen. Der Verzicht in einer monetären Zukunft auf ehrliche Gefühle und aufgesetzte Romanzen tut dem ganzen Buch sehr gut. Insbesondere Sue Smith dank ihrer selbstironischen Art, die in diesem Fall mit all den „Fakten” konfrontiert wird die ihr nichts sagen, ragt aus der Gruppe von Figuren heraus, wobei sich der Autor auch nicht zu schade ist, manchen Charakter auf das Niveau einer Karikatur zu reduzieren und die ganzen Klischees über weltfremde Programmier sowie egozentrische Spieler auf die imaginären Spitzen zu treiben.
Zusammenfassend ist „Du bist tot” ein ausgesprochen unterhaltsamer Roman, der in erster Linie unter der fehlenden Konsequenz hinsichtlich der Ausgangsprämisse leidet. Bei der Auflösung macht es sich Charles Stross vielleicht ein wenig zu leicht und reduziert diesen großen Coup in einer fiktiven Welt auf die Tat eines einzelnen, dessen Motive im Grunde die klassische Gewinnmaximierung sowie die Ausschaltung aller Regeln des Neokapitalismus sind. Vielleicht ist diese Antwort ein wenig zu dünn, während der Ermittlungen wird der Leser durch eine Reihe von immer fremdartiger, bizarrer werdenden Welten geschleift, die länger als manche plottechnische Klippe im Gedächtnis bleiben. Kein ganz großes Kino, aber einer der stringenten Romane dieses talentierten Science-Fiction-Autors.