Tim Curran: Der Leichenkönig (Buch)

Tim Curran
Der Leichenkönig
(The Corpse King, 2010)
Aus dem Amerikanischen von Ben Sonntag
Titelbild: Mark Freier
Mit einem Interview, geführt von Christian Endres
Atlantis, 2011, Paperback, 148 Seiten, 11,90 EUR (auch als Hardcover direkt beim Verlag erhältlich (14,90 EUR) und als eBook)

Von Armin Möhle

„Der Leichenkönig“ ist der erste in Deutschland publizierte Roman des US-amerikanischen Autors Tim Curran – oder, zutreffender ausgedrückt: die erste Novelle, als die der Autor sein Werk (im anschließenden Interview) selbst einschätzt. In 2011 ist in der Anthologie „Kannibalen: Menschenfleisch – sittlich und moralisch tabu“ (Festa Verlag, Horror TB 1532, herausgegeben von Frank Festa) auch die erste Kurzgeschichte Tim Currans im deutschen Sprachraum („Maden“) erschienen. Kürzlich veröffentlichte der Festa Verlag den Roman „Zerfleischt“ (Horror TB 1537), dem in einigen Monaten „Verseucht“ (Horror TB 1545) folgen soll.

Mit „Der Leichenkönig“ begibt sich Tim Curran in die Gesellschaft von Robert Louis Stevenson und H. P. Lovecraft, deren Erzählungen „Der Leichenräuber“ bzeziehungsweise „Der Fall Charles Dexter Ward“ bereits die Leichenplünderei aufgreifen, auch wenn Letztere nicht in Schottland spielt, aber zumindest teilweise im frühen 19. Jahrhundert angesiedelt ist.

Nicht nur in London, sondern auch in Edinburgh stand das Gewerbe der Grabräuber in voller Blüte, lechzten Krankenhäuser und Wissenschaftler nach Leichen, um sie im Rahmen ihrer Forschungen zu sezieren. Da der legale ‚Nachschub‘ (verurteilte Straftäter) zu gering war, um ihren Wissensdurst zu befriedigen, ließen sie sich von Grabräubern die Leichen von erst vor kurzem Bestatteter liefern. Einige Leichenräuber schreckten auch nicht davor zurück, Morde zu begehen, um die Nachfrage zu befriedigen. Erst das Anatomiegesetz von 1832 bereitete diesem Vorgehen ein Ende.

Auch die Protagonisten des Buches, Samuel Clow und Mickey Kerney, betätigen sich als Grabräuber beziehungsweise – ausgesprochen euphemistisch formuliert – als ‚Erwecker‘. Sie erfahren, dass einige ihrer Kollegen von ihren Streifzügen auf die nördlichen Grabfelder von Edinburgh nicht zurückgekehrt sind. Sie lassen sich davon jedoch nicht abhalten, diese Friedhöfe ebenfalls zu plündern – und begegnen dabei dem Leichenkönig.

Tim Curran versteht es sehr gut, den Leser in jene Epoche zu versetzen: in die Armut, in die Enge, in die Hoffnungslosigkeit, in die Brutalität, die seinerzeit in Edinburgh (und nicht nur dort) herrschte. Seine Schilderungen sind sehr detailreich, sein Stil mitunter komplex, die Dialoge dem Handlungszeitpunkt angepasst. Auch die Kapitel, in denen Samuel Clow und Mickey Kerney ihrer Profession nachgehen, sind sehr eindringlich. Von dem Öffnen der Gräber und dem Stehlen der Leichen geht eine morbide Faszination aus, die aber auf keiner einzigen Seite in Effekthascherei oder in Splatter-Effekte umschlägt. Der Charakter des Leichenkönigs ergibt sich konsequent aus jenem Handlungsort, womit der Autor ein weiteres Klischee vermeidet.

„Der Leichenkönig“ ist ein prägnant verfasster Horror-Roman – pardon: eine prägnant verfasste Horror-Novelle, versteht sich. Andere Autoren hätten aus dem Plot sicherlich einen mehrere hundert Seiten umfassenden Roman gemacht; Tim Curran konnte dieser Versuchung erfreulicherweise widerstehen. Denn das hätte dem „Leichenkönig“ sicherlich seine Faszination genommen.