Tietz, Michael: Rattentanz (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Mittwoch, 09. Dezember 2009 00:00
Michael Tietz
Rattentanz
Titelillustration von Shutterstock
Bookspot, 2009, Hardcover, 832 Seiten, 22,80 EUR, ISBN 978-3-937357-37-9
Von Carsten Kuhr
Aus unserer modernen Gesellschaft sind vernetzte Systeme nicht mehr wegzudenken. Mikroprozessoren steuern nicht nur unseren heimischen PC, auch so Alltägliches wie das Telefon, Strom und Heizung, gar nicht zu reden von den offiziellen Stellen, die über unser Wohl wachen, bedienen sich moderner Technologie.
Was aber wäre, wenn ein heimtückischer Virus, gewollt oder zufällig, auf einen Schlag alle mehr oder minder hochgezüchteten Prozessoren stilllegen würde?
Schiffe trieben antriebs- und steuerlos auf den Weltmeeren, Züge würden ausrollen, Flugzeuge vom Himmel fallen, Reaktoren unkontrolliert kollabieren. Die Handys und Telefone, mit denen die Rettungsdienste alarmiert werden sollen, funktionieren ebensowenig, wie die computergestützten Notfallpläne und Sanitäter, Feuerwehrmänner und Polizisten sitzen in ihren strom- und funklosen Einsatzzentralen fest.
Michael Tietz erzählt uns in seinem Erstling von exakt einem solchem Worst-Case Szenario.
Zwei Gymnasiasten versuchen den Computer ihrer Schule mit einem Virus lahmzulegen, um die anstehende Biologie- und Geschichtsklausuren zu vermeiden. Dass sie dabei ihrem Virus unbeabsichtigt statt 40 immerhin 400 Tage Zeit geben, bevor dieser sich aktiviert, führt dazu, dass die kleinen Datenpakete weltweite Verbreitung finden.
Punkt 7.00 Uhr in der Früh an einem ganz normalen Werktag schlägt der Virus zu. Weltweit, effektiv und unumkehrbar. Nichts funktioniert mehr, kein Strom, kein Radio, keine Heizung.
Anhand der Bewohner eines kleinen Städtchens im Süd-Schwarzwald zwischen Donaueschingen und der Schweizer Grenze berichtet uns der Autor von den Auswirkungen des Ausfalls der Zivilisation. Das mag nun pathetisch klingen, doch der Wegfall aller Kommunikationsmittel, aller Technik, führt dazu, dass die doch recht dünne zivilisatorische Tünche nicht allzulange hält, bis der Kampf ums Überleben beginnt. Schnell wird deutlich, dass die sozialen Netze brechen, dass der Existenzkampf jeder gegen jeden begonnen hat.
Hemmungslos versuchen sich Möchtegern-Despoten zu Führern aufzuschwingen, wird geplündert, herrscht das Recht des Stärkeren, des Brutaleren.
Gleichzeitig bilden sich kleine Gemeinwesen, die dem zum Trotz Werte wie Toleranz, Unterstützung und Freundschaft hochhalten.
Tietz benutzt die Familie Seger, um ein wirklichkeitstreues Bild einer Katastrophengesellschaft zu zeichnen. Während die Ehefrau als Krankenschwester auf der Intensivstation des Krankenhauses Donaueschingen den unkontrollierten Ansturm der Verletzten mitbekommt und sich zu Fuß zu ihrer zehnjährigen Tochter Lea ins 30 Kilometer entfernte Wellendingen aufmacht, versucht ihr Ehemann aus dem fernen Schweden den Heimweg zu finden. Während ihrer Reisen begegnen sie dem unkontrollierten Chaos, treffen auf Hoffnungslosigkeit ebenso wie auf Güte, auf Gewalt ebenso wie auf selbstlose Hilfe und immer wieder auf den Tod. Helden gibt es in diesem Buch folgerichtig keine. Statt einem Protagonisten bei seinem Triumph zu folgen, dokumentiert der Autor die Zustände einer Gesellschaft, die aus ihren Grenzen bricht. Das ist in seiner Ausführung direkt, zeigt auf ergreifende Art und Weise, wie sich der Mensch, gerade in Krisensituationen sowohl auf seine positivsten Eigenschaften, aber oftmals auch auf seine negativen Werte besinnt, ja reduziert und nur zu oft alles Menschliche hinter sich lässt und wieder zum Tier wird. Dabei wirkt das Ergebnis nicht im geringsten Masse kitschig oder übertrieben, sondern in sich glaubwürdig und erschreckend vorstellbar.
Über die gesamte Länge des Buches hinweg sprachlich gut, erwartet ein inhaltlich wie von seiner Ausführung her überzeugend realistisch wirkender Thriller den Leser, der den Vergleich zu Titeln aus der Feder eines Eschbach oder Schätzing nicht zu scheuen braucht. Für ein Erstlingswerk erstaunlich ausgereift und fast fehlerlos unterhält das Buch niveauvoll, spannend und überraschend – ein bemerkenswertes Debüt.