Nassise, Joseph: Der Schattenseher – Die Hunt-Chroniken 1 (Buch)

Joseph Nassise
Der Schattenseher
Die Hunt-Chroniken 1
(Eyes to See)
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Heike Holtsch
Titelillustration von FinePic
Pan, 2009, Taschenbuch mit Klappenbroschur, 350 Seiten, 9,95 EUR, ISBN 978-3-426-28304-2

Von Carsten Kuhr

Boston. Im nahegelegenen Salem fanden im Jahr des Herren 1692 die Hexenprozesse statt, und in dieser Stadt lebt heute Jeremiah Hunt als angesehener Professor für alte Sprachen. Mit seiner Frau, einer erfolgreichen Rechtsanwältin, und ihrer gemeinsamen Tochter bewohnen sie ein malerisch gelegenes Anwesen im besseren Teil der Stadt. Alles ändert sich, als ihre Tochter eines Tages spurlos verschwindet. Die Ehe geht auseinander, Hunt selbst macht sich, nachdem die Polizei den Fall zu den Akten gelegt hat, besessen auf die Suche nach Elisabeth. Er schaltet Anzeigen, klebt Vermisstenplakate an die Laternen, besucht Wahrsager und, als all dies keine Wirkung zeigt, wendet er sich dem Übersinnlichen zu.

Ein uraltes magisches Ritual nimmt ihm sein Augenlicht. Gleichzeitig aber öffnet es seinen Geist für die Welt der Geister, Ghoule und der Toten.
Entsetzt muss er erkennen, dass er bislang auf einer Insel der Unwissenheit gelebt hat. Die Welt ist eine Abfallgrube. Voll mit Kreaturen, die über unsere Vorstellungskraft hinausgehen, und nur darauf warten, buchstäblich unsere Herzen, unseren Verstand und unsere Seelen zu verschlingen. Mit Hilfe von Geistern, die ihn unterstützen, vermag er wieder zeitweise zu sehen, doch seine Suche bleibt vergebens. Seine besonderen Gaben aber nutzt auch die örtliche Polizei. Als ein Serienkiller zuschlägt besichtigt er die Tatorte. Neben den unverständlichen Schriftzeichen vergessener Sprachen an den Wänden findet Hunt dabei Glücksbringer seiner verschollenen Tochter an den Tatorten. Zusammen mit der Hexe Denise Clearwater macht er sich auf die Suche nach dem Mörder, der offensichtlich seine Aufmerksamkeit erregen will – und stößt dabei auf ein beschworenes Übel aus der Vergangenheit …

Joseph Nassise legte mit den »Chroniken der Templer« im Knaur Verlag schon beredt Zeugnis seiner Fabulierkunst ab. Spannend, temporeich und voller Wendungen berichtete er damals, zum Teil in Welterstveröffentlichung, über den Kampf einer Spezialeinheit der Kirche gegen das Böse.
Der mehrfach für den Bram-Stoker-Award als auch für den Horrors Writer Award nominierte Autor scheint bei uns besser anzukommen, als in seinem Heimatland. Auch vorliegendes Werk, einmal mehr der Auftakt einer im weitesten Sinne Urban-Fantasy-Saga, erscheint als Welterstveröffentlichung bei Pan.
Und das Gebotene kann sich durchaus sehen, pardon, lesen lassen. In jeweils recht kurzen Kapiteln, die jeweils mit einem Cliffhanger enden, berichtet uns der Ich-Erzähler in einem mitreißenden, selbstironischen Tonfall von den dramatischen Geschehnissen in und um Boston.
Dass die Handlungsorte dabei austauschbar und wenig griffig bleiben sei angemerkt, alles ordnet sich zunächst der Aufklärung der Morde, später dann der Verfolgung des Täters unter.
Geprägt wird das Buch durch seinen Erzähler. Wir lernen Hunt als von Schuld und Reue geplagtes Wesen kennen. Manisch sucht er auch nach Jahren noch nach seiner Tochter, kann und will sich mit dem Verlust nicht abfinden. Er opfert ein ganzes bisheriges Leben, verliert alle sozialen Kontakte und taucht immer tiefer in den Kreislauf aus Selbstvorwurf und zwanghaftem Handeln ein. Selbst sein Opfer, das ihm die Welt des Übersinnlichen optisch erschließt, erweist sich zunächst scheinbar als sinnlos. Seinem Ziel, das Schicksal seiner geliebten Beth zu ergründen, kommt er nicht näher. Stattdessen darf er der örtlichen Polizei, inoffiziell versteht sich, helfend zur Seite treten. Dank erhält er keinen, selbst die Verbrecher halten sich inzwischen von dem seltsamen Blinden fern. Dass solch ein Mensch nicht längst aufgegeben hat ist überraschend. Noch erstaunlicher aber, dass der Leser dem Autor dies abnimmt. Gerade die Zeichnung Hunts fesselt den Leser zu Beginn des Romans an die Seiten.
Natürlich scheint es zunächst um die Frage »Who Did It?« zu gehen. Erst nach und nach, im Verlauf der turbulenten – manches Mal in sich nicht ganz logischen – Handlung erfahren wir Hintergründe, erschließt sich uns die Welt des Jeremiah Hunt. Hier gelingt es dem Autor uns für seinen Erzähler und mit dessen Schicksal einzunehmen.

Als Auftakt für eine neue Serie gelungen, bietet uns Nassise eine etwas andere Urban Fantasy als das Gewohnte an, ein wenig dunkler, nicht so romantisch verklärt, urbaner, beängstigender und gleichzeitig faszinierender als viele der Konkurrenten.