Jessica Warman: Manche Mädchen müssen sterben (Buch)

Jessica Warman
Manche Mädchen müssen sterben
(Between, 2011)
Titelbild: Brittany Smith
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Andreas Kasprzak
Penhaligon, 2011, Paperback, 414 Seiten, 14,99 EUR, ISBN 978-3-7645-3069-3 (auch als eBook erhältlich)

Von Gunther Barnewald

Elizabeth Valchar ist eine jener gestylten Zicken, die ihre Umwelt terrorisieren und mit ihrem Freundeskreis der Reichen und Beliebten die High School dominieren. Gerne hacken sie auf Außenseitern herum, prahlen mit ihren neuesten Klamotten oder sonstigen teuren Gerätschaften, schminken sich bis der Arzt kommt. Doch das oberflächliche Glück der jungen Liz endet abrupt an ihrem 18. Geburtstag, als sie auf der kleinen Jacht ihres Vaters in den Festtag hinein feiern möchte.

Denn plötzlich steht die Schülerin mitten in der Nacht vor ihrer im Wasser treibenden Leiche und kann sich vor Entsetzen kaum fassen. Dann taucht auch noch der Geist von Alex Berg auf, einem Außenseiter unter den Mitschülern, der vor kurzem in der Dunkelheit bei einem Fahrerflucht-Unfall getötet worden ist. Er scheint der einzige zu sein, mit dem Liz beziehungsweise ihr Geist noch Kontakt aufnehmen kann.

Doch Alex verachtet sie für ihre Oberflächlichkeit und ihre arrogante Kälte. Liz versteht seine Ansichten zunächst nicht, sieht sie sich doch völlig anders. Zudem kann sie sich an einige Vorfälle in ihrem Leben nicht mehr erinnern. Erst als sich viele davon wieder vor ihren Augen abzuspielen beginnen und sie zusammen mit Alex wie eine Zuschauerin diesen beiwohnen kann, begreift sie, wie sie ihre Mitmenschen und auch ihre Freunde manchmal behandelt hat.

Aber warum ist sie mit Alex in einer Art Zwischenwelt gefangen? Und war ihr Tod wirklich ein Unfall? Was ist in jener Nacht wirklich passiert? Und warum hat sie scheinbar eine Art Doppelleben geführt, hatte sich einem primitiven Autoschrauber hingegeben, obwohl sie die Liebe ihres Lebens im Mitschüler und Nachbarjungen Richie schon gefunden zu haben glaubte?
Nach und nach erfährt die junge Liz die Wahrheit über ihr Leben und auch das ihrer Eltern und ihrer Stiefmutter und begreift, welch grausamen Wahrheiten sich hinter den ganzen scheinbar so bürgerlichen Existenzen verbergen, welche seelischen Abgründe sich auftun und warum Alex, der tote Mitschüler, sie begleiten muss...

Jessica Warman ist ein erstaunlicher Roman gelungen, der es schafft, von der ersten Seite an eine hohe Spannung aufzubauen, diese nicht nur fast 400 Seiten lang zu halten, sondern auch noch auszubauen. Sicherlich wären ein paar weniger Seiten hier mehr gewesen, die Autorin hat jedoch so viele düstere Geheimnisse in die Geschichte gepackt, dass der Leser dem Ende des Romans atemlos entgegenfiebert.

Der literarische Trick, die Handlung erst einsetzen zu lassen, nachdem die Protagonistin tot ist, funktioniert hier tadellos. Nachdem somit das große Happy End ausfällt, beginnt Warman die scheinbar heile Welt von Liz gnadenlos zu zerlegen. Das kleine, hilflose Mädchen hinter der aufgeblasenen Zicke wird immer deutlicher, ihre armselige, unglückliche und von Angst und Trauer zerfressene Existenz wird dem Leser in Technicolor vorgeführt. Absolut meisterhaft entblättert die Autorin dabei die ganzen Mysterien, die Liz Leben prägten. Wie in einem hervorragenden Kriminalroman erfährt der Leser scheibchenweise, wie es dazu kommen konnte, dass die Schülerin als Leiche im Wasser treibend endete. Dabei wird die arrogante Schnepfe immer mehr zum Menschen, der Leser sieht sich immer mehr hin und her geworfen zwischen Abscheu und Mitleid und begreift, dass die Erkenntnis der Protagonistin nur zu wahr ist: „Mir wird klar, dass es nicht immer einfach ist, den Unterschied zwischen gut und böse zu erkennen: Er ist nicht annähernd so offensichtlich, wie ich gerne glauben möchte. (...) Mir wird bewusst, dass der Charakter eines Menschen niemals nur schwarz oder weiß ist. Da ist auch noch jede Menge grau“ (Seite 375). Dabei thematisiert Warman zudem noch auf sehr feinfühlige und verständliche Weise das Thema Magersucht und deren mögliche Entstehungsbedingungen. Jedoch nicht nur die Protagonistin wird als Mensch lebendig, der Autorin gelingt es auch, glaubwürdige Nebenfiguren zu erschaffen, die den Leser überzeugen.

Eingebunden in das phantastische Konzept aus der Sicht einer Toten die Vorfälle erklär- und verstehbar zu machen, gelingt Jessica Warman hier ein kleines Meisterwerk, welches deshalb eine nahezu perfekte Lektüre darstellt, weil es nicht nur wunderbar unterhält, sondern auch auf sehr leichte und mühelose Weise zum Nachdenken über eigenes Tun und Handeln anregt.

Sieht man von der einen oder anderen Seite zu viel ab und einem kleinen Nebenelement der Handlung, welches leider nicht nur völlig sinnfrei und ohne Not eingesetzt wird, sondern nachgerade ärgerlich ist (Warum taucht hier ein Wahrsager auf, dessen krude Prophezeiung dann doch noch in Erfüllung geht? Eine peinliche und unentschuldbare Entgleisung der Autorin in die Esoterik, welche die tolle Geschichte fast entwertet!), ist die vorliegende Geschichte ansonsten bravourös gelungen.

„Manche Mädchen müssen sterben“ ist ein nachdenklich machendes Buch, hervorragend geeignet auch als Schullektüre über Mobbing, Zivilcourage, Magersucht, Freundschaft und Gruppenzwang, ein wahrer und (leider nur fast) tadelloser Lesegenuss, unbedingt empfehlenswert für alle, die originelle Geschichten mögen, die spannend und niveauvoll erzählt sind.