Annas Paradies 1: Von Dieben und Schmugglern (Comic)

Annas Paradies 1
Von Dieben und Schmugglern
Text & Artwork: Daniel Schreiber
Splitter, 2011, Hardcover, 48 Seiten, ISBN 978-3-86869-297-6

Von Frank Drehmel

Wir schreiben den Winter des Jahres 1946. Große Teile „der Stadt“ liegen in Trümmern. Ein kleines Viertel jedoch hat den Wahnsinn des Krieges und die Bombennächte nahezu unbeschadet überstanden; ein düsteres Viertel, nur wenige Straßenzüge umfassend, das von seinen Bewohnern, den Schmugglern und Huren, den Spielern, Dieben und Hehlern sarkastisch als das „kleine Paradies“ bezeichnet wird.

Einer der Menschen, die im Dunkeln ihren Geschäften nachgehen, ist Viktor, seines Zeichens Schwarzmarkthändler, Menschenschmuggler und ein Mann mit einem großen Herz. Eines Tages gerät er im Zuge eines Auftrags nicht nur in den Besitz einer Tasche mit augenscheinlich Verderben bringendem Inhalt, sondern trägt auf einmal die Verantwortung für ein kleines Waisenmädchen.

Zwar erfährt er Unterstützung von Oma Lotte, jedoch bahnt sich unmittelbar darauf weiteres Unheil an: direkt aus dem Himmel stürzt eine junge Frau in den Hinterhof seiner schäbigen Mietskaserne. Der gutmütige Viktor nimmt das bewusstlose Wesen mit in seine heruntergekommene Wohnung und befindet sich urplötzlich in tödlicher Gefahr, denn die Frau – Anna – ist im wahrsten Sinne des Wortes ein gefallener Engel aus den Heerscharen Luzifers, ein Engel, der sich auf der Suche nach seiner menschlichen Seite von seinem Meister lossagte, der aber kaum in der Lage ist, die in ihm schlummernde, nach Zerstörung schreiende Macht zu bändigen.

Als Anna ihn trotz eines gewalttätigen Ausbruchs ihrer übermenschlichen Kräfte bittet, ihr Obdach zu gewähren, willigt Viktor ein und bringt damit zwar einerseits seine Mitbewohner in Gefahr, holt aber andererseits jemanden ins Haus, der die kleine Gemeinschaft schützen könnte. Und dieser Schutz ist mehr als notwendig, denn drei skrupellose englische Besatzer sind auf der Suche nach der Tasche, die Viktor zuvor in die Hände fiel.

Nach „Ria“, „Frostfeuer“ und „Das Wolkenvolk“ hat mit „Annas Paradies“ eine weitere Alben-Reihe aus der Feder eines deutschen Kreativen den Sprung ins Splitter-Verlagsprogramm geschafft, wobei es sich bemerkenswerterweise bei Daniel Schreibers Werk nicht nur um ein Debüt-Comic handelt, sondern sein Schöpfer auch als Autor und Künstler in Personalunion fungiert.

Und dieses Debüt hat es in jeder Hinsicht in sich: zunächst wäre da das grandiose Artwork zu nennen, das sowohl lebendig und dynamisch in den Perspektiven daherkommt, als auch durch seinen skizzenhaften Anstrich, den markanten Charakteren – regelrechten Typen –, den ausdrucksstarken Posen insbesondere Annas sowie der digital leicht überarbeiteten aquarellierenden, eher düsteren Handkoloration visuell interessant und atmosphärisch stimmig.

Doch nicht nur das Artwork überzeugt vollends, auch Plot und Setting mit ihrer Mischung aus Nachkriegswirren, Überlebenskampf in einer darbenden Gesellschaft und düsterer Metaphysik, den kleinen Heldentaten und Verbrechen in einem geradezu klaustrophobischen, abgeschlossen Kontext, dem Inszenieren von Rätseln um Annas Herkunft und Wesen oder den Inhalt der Tasche überzeugen von der ersten Seite an, reißen den Leser förmlich mit und lassen ihn dem Folgeband (für den noch nicht einmal ein Veröffentlichungsdatum in Aussicht gestellt ist) entgegenfiebern.

In redaktioneller Hinsicht runden zwei Seiten, auf denen Daniel Schreiber sein künstlerisches Vorgehen anhand eines Beispiels erläutert, diesen erst Band der Reihe ab.

Fazit: Nicht nur irgendein Highlight im Angebot des Splitter-Verlags, sondern wegen des originellen Plots, der starken, charismatischen Charaktere und das furiosen Artworks neben dem „Schmetterlingsnetzwerk“ der bisherige Höhepunkt im 2011er-Programm.