Scott Hawkins: Die Bibliothek am Mount Char (Buch)

Scott Hawkins
Die Bibliothek am Mount Char
(The Library at Mount Char, 2018)
Übersetzung: Tanja Ohlsen
Foliant, 2024, Hardcover, 490 Seiten, 24,00 EUR

Rezension von Carsten Kuhr

Carolyn unterscheidet sich nicht sehr von ihren Mitmenschen. Sie mag Guacamole, Zigaretten und Steak und sie weiß, wie man ein Telefon benutzt. Mit der Kleidung ist es etwas schwierig, aber jeder sagt etwas Nettes über ihr Outfit mit dem Wollpulli über den goldenen Spandex-Radlerhosen und den Legwarmern. Schließlich war sie einmal eine ganz normale Amerikanerin.

Das ist natürlich schon lange her, genauer gesagt 23 Jahre. Bevor ihre Eltern starben. Bevor sie und die anderen elf Kinder von dem Mann aufgenommen wurden, den sie Vater nannten.

In den Jahren seither hatte Carolyn keine Gelegenheit, viel rauszukommen. Stattdessen wurden sie und ihre Adoptivgeschwister nach den alten Bräuchen des Vaters erzogen und ein jeder von ihnen in einer vergessenen Sprache, dem Pelapi, in einem der 12 Kataloge (Bereiche des Wissens) der Bibliothek ausgebildet. Sie haben die Folianten studiert, sind gestorben und wurden wiedererweckt, wurden gemartert, im Stier/Bullen verbrannt und kamen zurück. Es ist strengstens verboten, eines der Fächer der anderen Kinder zu studieren. So strikt, dass - nun, sagen wir einfach, es wird sehr deutlich, wie gefährlich und ernst es Vater mit seinen Regeln hält! Über die Jahre haben sie so einige der Geheimnisse von Vaters Macht gelernt - nie aber die ihrer Geschwister. Und manchmal haben sie sich gefragt, ob ihr grausamer Lehrmeister insgeheim vielleicht Gott sein könnte?

Jetzt ist Vater verschwunden, vielleicht sogar tot - und die Bibliothek, die seine Geheimnisse birgt, ist unbewacht. Und damit auch die Kontrolle über die gesamte Schöpfung.

Während Carolyn ihren Plan, die Kontrolle über die Realität an sich zu reißen umsetzt, scheint das Vierte Zeitalter, die Ära ihres Vaters, zu Ende zu gehen. 60.000 Jahre hat er geherrscht, jetzt, da die Sonne erloschen ist, rühren sich die Schweigenden wieder, scheint die Bibliothek und die dort niedergeschriebene ultimative Macht, frei zugänglich zu sein. Wer sich diese als Erste oder Erster sichert, könnte die absoluten Macht für sich sichern.

Carolyn hat einen Plan, einen guten, einen fast perfekten Plan. Das einzige Problem ist, dass sie im Krieg um die Erschaffung eines neuen Gottes vergessen hat, die Dinge zu schützen, die sie menschlich machen - die Ereignisse eskalieren…


Was ist das für ein seltsames und seltenes Buch, um das alle Konzernverlage trotz allergrößter Empfehlungen einen weiten Bogen machten?

Ein Debüt-Roman (dem bislang leider kein weiterer Titel aus der Feder Hawkins‘ folgte), wie ich ihn, Zeit meines Lebens, so noch nie auch nur annähernd gelesen habe. Ein Roman, den mir Dr. Helmut Pesch, Erik Andara und Kai Meyer empfohlen haben und der diese Empfehlung wert war und ist!

Bevölkert von unvergesslichen Charakteren und angetrieben von einem Plot, der mich ein ums andere Mal überrascht, der mich mit seinen Wendungen immer wieder schockiert hat, ist „Die Bibliothek am Mount Char“ gleichzeitig erschreckend, schockierend und dann wieder urkomisch, umwerfend fremdartig aber auch herzzerreißend menschlich, darüberhinaus mitreißend visionär und wirklich unglaublich spannend.

Zu Beginn irren wir noch ein wenig in der Erzählung umher. Alle Charaktere - Vater, wie seine Adoptivkinder - scheinen weit von den üblichen Protagonisten eines Romans entfernt zu sein. Keine der Eleven ist eine Figur, die sich uns als Mantel, in den wir schlüpfen können, anbietet, keine wirkt auch nur annähernd sympathisch. Eine höllische Achterbahnfahrt später, nach zwei fast durchgelesenen Nächten, sind mir die Figuren nähergekommen, gemocht aber habe ich, das muss ich gestehen, mehr deren Opfer.

Der Roman beginnt mit unserer Protagonistin Carolyn, die uns blutüberströmt auf einer verlassenen Straße im amerikanischen Nirgendwo begegnet, kurz nachdem sie jemanden ermordet hat. Wir wissen noch nicht, wer das Opfer ist, warum sie den Mord begangen hat oder was überhaupt vor sich geht. Was wir erfahren ist, dass Carolyn eiskalt ihren uns lange unbekannten Plan verfolgt.

Teil dieser minutiösen Planungen ist ein unglücklicher ehemaliger Krimineller namens Steve, der zumindest für mich lange Zeit die einzige Figur war, mit der ich mich in irgendeiner Weise identifizieren konnte. Steve ist ein ehemaliger Einbrecher, aber er scheint im Personen-Panoptikum noch der normalste Mensch der Welt zu sein. Steve wird von Carolyn eine Menge Geld angeboten. Alles, was er tun muss, ist ein letzter Einbruch, und dann sind alle seine finanziellen Sorgen vorbei. Zumindest denkt er das - einen ersten Tod, eine Auferweckung, eine Befreiung aus einem Bundesgefängnis und eine Flucht mit zwei Löwen als freundliche Beschützer und Begleiter später, weiß er, dass seine Gier eine wirklich ganz schlechte Idee war.

Langsam, fast wie in einem Puzzle, erfahren wir, wer Carolyn ist, wer ihre Geschwister sind und was sich hinter den Geschehnissen verbirgt.

Dabei scheut sich der Autor nicht davor, uns drastisch vor Augen zu führen, wie anders, wie eigen die Moralmaßstäbe Vaters und seiner Kinder sind. Es geht brutal zu - wobei die drastisch beschriebene Gewalt nie als Selbstzweck dient, sondern immer die Handlung voranbringt und beleuchtet.

Und es geht darum, viele zunächst rätselhafte Fragen zu klären. Wer ist Vater, was will er, warum ist er, der Allmächtige, verschwunden, was steckt hinter der Aufzucht der Zwölf, was hinter ihren unterschiedlichen Fähigkeiten, was hinter den vier Zeitaltern der Welt? Nichts davon wird uns einfach vorgekaut vorgesetzt, wir müssen es uns erarbeiten, mitdenken, rätseln und dann eruieren, wie alles zusammenpasst.

Die Charaktere sind - nun, ich erwähnte schon, dass die Opfer, allen voran Dieb Steve und Kriegsheld Erwin - aber auch die beiden Löwen Dresden und Naga - sympathisch rüberkommen. Die Kinder sind - anders. Viele haben ihre Menschlichkeit verloren, abgelegt trifft es wohl besser; was sie verbindet ist, dass sie alle auf mich unheimlich interessant wirkten. Dabei unterscheiden sie sich alle voneinander, habe ihre Eigenheiten, ihre Schicksale, ihre Träume und Hoffnungen, aber auch ihre Abgründe, die sie immer wieder offenbaren.

Vorhersehbar ist in diesem Plot nichts, die Rätsel greifen im Nachhinein betrachtet, logisch ineinander, sind uns während der Lektüre aber unerklärlich und halten das Interesse wach.

Dabei ist es wirklich keine einfache, wohl aber eine bereichernde Lektüre. Selten habe ich so interessiert die Seiten umgeblättert, war am Ende des Plots, nach gut 350 Seiten, überrascht aber befriedigt - nur, dass Hawkins dann noch in den folgenden gut 120 Seiten noch einen draufsetzt und uns erneut mit seinen Ideen in seinen Bann zieht. Der verwirrende, verschlungene Beginn ist nur der Auftakt zu einer Leser-Tour-de-Force ,wie ich sie selten - eigentlich so noch nie - erlebt habe.

Ein Buch, das wenn es einen einmal in seinem Griff hat, nicht mehr loslässt, ein Roman, der wohltuend anders ist, ein Plot, der vor Überraschungen nur so strotzt und Charaktere der unvergesslichen Art en masse anbietet. Schlicht, ein großartiges Buch!

Das kann, das sollte, nein das muss man gelesen haben!