Stephen King: Ihr wollt es dunkler (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Mittwoch, 05. Juni 2024 18:10

Stephen King
Ihr wollt es dunkler
(You Like It Darker, 2024)
Übersetzung: Wulf Bergner, Jürgen Bürger u.a.
Heyne, 2024, Hardcover, 736 Seiten, 28,00 EUR
Rezension von Gunther Barnewald
Erst einmal ein Kompliment an den Verlag und die Gestalter für das wirklich tolle Titelbild (wäre hier noch ein alter Buick anstatt eines alten Cadillacs zu sehen, wäre es perfekt!).
Stephen King hat spätestens mit „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“ (im Original „Different Seasons“) bewiesen, dass er ein genialer Autor von Novellen ist. Erzählungen zwischen 50 und ca. 150 Seiten liegen ihm, und spätestens die Verfilmung von drei der vier damaligen Novellen (wobei „The Body“ in Deutschland zu Stand by Me - Das Geheimnis eines Sommers“ und „The Shawshank Redemption“ beziehungsweise „Pin-up“ zu „Die Verurteilten“ wurde und damit zu definitiv zwei der besten King-Verfilmungen aller Zeiten; auch „Apt Pupil“ als „Der Musterschüler“ ist gar nicht schlecht!) zeigten, welch wunderbare Geschichten der Autor hier in der kürzeren Form zu schreiben in der Lage ist.
Der vorliegende Band enthält nun drei Novellen (zwei von knapp 80 Seiten, eine mit etwa 130 Seiten), einen Roman von 220 Seiten (früher hätte diese Länge als vollständiger Roman gegolten, aber im Zeitalter aufgeblähter Fantasy-Unendlich-Serien und dicker Ziegelsteinbücher gilt diese Seitenzahl bei Heyne und vor allem bei Stephen King wohl nur noch als Kurzroman) und acht Kurzgeschichten.
Das Highlight der vorliegenden Sammlung ist dann auch eindeutig der „Kurzroman“ unter dem Titel „Danny Coughlins böser Traum“, in dem von einem gleichnamigen „Otto Normalverbraucher“ erzählt wird, der als Hausmeister arbeitet und von einem seltsamen Traum aus seinem bürgerlichen Leben gerissen wird. Er träumt nämlich von einer weiblichen Leiche, die hinter einer alten, verlassenen Tankstelle halb begraben liegt und gerade von einem streunenden Hund angenagt wird. Als er die Tankstelle googelt, stellt er fest, dass es diese wirklich gibt; und so fährt er hin, um tatsächlich die Leiche und den streunenden Hund vorzufinden. Nachdem er die Leiche abgedeckt hat, besorgt er sich ein Prepaid-Handy, um so scheinbar heimlich die Polizei zu informieren. Schnell deckt diese jedoch die Identität des Anrufers auf und Danny findet sich im Handumdrehen als Hauptverdächtiger wieder, zumal ihm keiner den seltsamen Traum abnimmt. Vor allem nicht der ermittelnde Inspektor Franklin Jalbert, der Danny mit manischer Energie beginnt zu verfolgen und ihm sogar Drogen unterschiebt, um ihn endlich verhaften zu können. Nur durch geschicktes Taktieren und durch die Hilfe von Jalberts Kollegin Ella Davis gelingt es Danny, das Gefängnis zu vermeiden. Aber die Anfeindungen von Dannys sozialer Umwelt werden immer schlimmer, zumal Jalbert Dannys Namen und Identität an die Presse durchgestochen hat. Bald gerät Danny unter die Räder der Feindseligkeiten und kann sich kaum noch retten...
Die Geschichte ist äußerst spannend erzählt, hat eine wunderbare Atmosphäre und glaubhafte Protagonisten. Es macht einfach großen Spaß, Dannys verzweifelten Kampf um Gerechtigkeit zu folgen, auch wenn einem als Leser die Figur des Inspektor Jalbert und seine Vorgehensweise wirklich wütend macht (aus deutscher Sicht lässt die ehemalige SoKo „Dönermorde“ hier grüßen!).
Nicht ganz so stark, aber zumindest von einer großartigen Idee getragen, ist die Story „Ein Fachmann für Turbulenzen“, die auf süffisante Art und Weise beginnt wie eine der üblichen Auftragskiller-Geschichten. Doch Craig Dixon hat einen ganz anderen Job...
Ebenfalls recht gelungen sind die Novelle „Klapperschlangen“ (eine wunderbare Variante der üblichen Gespenstergeschichte) und die Kurzgeschichten „Finn“ (von einem echten Unglückswurm, der immer wieder mal das Unheil auf sich zieht, ohne daran Schuld zu tragen) und „Auf der Slide Road“, (eine Abkürzung erweist sich für eine Familie als Horrortrip).
Auch die Novelle vom Antwortmann (ein kurzes Gespräch mit einem funktionierenden Orakel dreimal im Leben des Protagonisten) und die Story „Laurie“ (von einem alten Mann, der einen Welpen in sein Leben lässt und kurze Zeit später mit diesem zusammen einem angriffslustigen Alligator begegnet) sind unterhaltsam und recht gut lesbar.
Während die beiden Storys „Das rote Display“ (Alien-Invasion à la „Die Körperfresser kommen“) und „Willie der Wirrkopf“ (ein ähnlicher Plot, nur ohne Aliens) doch sehr abgegriffen wirken, trifft die Kurzgeschichte „Der fünfte Schritt“ als einzige wirklich das Motto des Buchs (eigentlich: „Ihr mögt es dunkler“), überzeugt jedoch auch nicht wirklich (hier erscheint der bedauernswerte Protagonist zu farblos für wirkliches Mitleid und Betroffenheit beim Leser).
Und während die erste Novelle im Buch, „Zwei begnadete Burschen“, noch einigermaßen lesbar erscheint, ist die knapp 50seitige Geschichte „Die Träumenden“ die definitiv mit Abstand schwächste Erzählung dieses Bandes (ob als Hommage an C. G. Jung oder gar Lovecraft ist hier egal, denn diese Traumforschung mit Ekeltentakeln hat wirklich weder Hand noch Fuß).
Sieht man also von dieser einen wirklich schwachbrüstigen Geschichte ab, bindet King mit dem vorliegenden Band wieder einen Strauß absolut lesenswerter Erzählungen, wobei er den Leser auf gewohnt souveräne Art mitnimmt in seine verstörenden Welten. In den besten Fällen schaut man durch die Augen der Protagonisten, leidet und freut sich mit ihnen, bis zur Rettung oder ihrem Untergang (der aber hier nur sehr selten vorkommt).
Erstaunlich ist der Autor immer wieder dann, wenn er verblüffende Ideen hat, so wie hier in „Ein Fachmann für Turbulenzen“ oder „Klapperschlangen“. Allein der tolle Roman lohnt aber schon den Kauf, als Beigabe folgen dann noch mindestens zwei gute Novellen und vier starke Kurzgeschichten. Zieht man den einen Rohrkrepierer ab, können die Leser hier fast 700 Seiten voller wunderbarer oder zumindest lesenswerter Geschichten erwarten.