Cordwainer Smith: Was aus den Menschen wurde (Buch)

Cordwainer Smith
Was aus den Menschen wurde
Deutsche Übersetzung von Thomas Ziegler und Ulrich Thiele
Mit einem Vorwort von John J. Pierce
Heyne, 2011, Taschenbuch, 1053 Seiten, 12,99 EUR, ISBN 978-3-453-52806-2

Von Gunther Barnewald

Der vorliegende Band enthält 27 Kurzgeschichten beziehungsweise Novellen des 1966 verstorbenen Paul Myron Anthony Linebarger, der diese Erzählungen hauptsächlich unter dem Pseudonym Cordwainer Smith schrieb. Sie alle gehören zu der vom Autor entworfenen faszinierenden „Future History“, einem Subgenre der SF, in der Autoren eine persönliche Zukunftschronologie der Entwicklung der Menschheit entwerfen. Kriterium hier ist, dass der Autor Romane und/oder Kurzgeschichten schreibt, die dann zu verschiedenen Zeiten spielen und dabei aber den gleichen imaginären geschichtlichen Hintergrund in der Zukunft haben. Dies gilt für die hier vorliegenden Texte.

Und genau so wie seine Schriftstellerkollegen Robert A. Heinlein, Larry Niven oder Alan Dean Foster, um hier einige prominente SF-Autoren zu nennen, hat auch Linebarger einen stringenten Kosmos erschaffen, der jedoch in seiner poetischen Eleganz und in seinem brillanten Stil seinesgleichen sucht (im Genre schreibt wohl nur Ray Bradbury ähnlich elegant).

Geschildert werden die nächsten ca. 15.000 Jahre der Menschheit. In diesen bauen die Menschen eine Art galaktisches Imperium auf, besiedelt ferne Sterne, erschaffen sich Tiermenschen als Untertanen, welche alle Arbeiten und Dienste ausführen, die für Roboter zu komplex sind oder in denen diese zu „unelegant“ erscheinen. Diese Zukunftsherrschaft nennt sich „Instrumentalität“, und die Wortwahl alleine zeigt schon, dass es sich um eine kalte, mitleidlose Technokratie handelt, die einzig und allein dem gnadenlosen Wohl der einzelnen Menschen dient. Die Tiermenschen werden unterdrückt und ausgebeutet, während die Menschen immer dekadenter und lebensunfähiger werden, bis auch in den oberen Ebenen der Hierarchie der Instrumentalität sich die Erkenntnis durchsetzt, dass quälende Stagnation der Preis ist für das technologische Utopia, welches sich die Menschheit erschaffen hat. Und so werden viele Privilegien wieder abgeschafft, die Menschen freigesetzt, mit einem früheren Tod konfrontiert und man entzieht ihnen wieder viel vom vorherigen Luxus, während die Tiermenschen, welche dem Autor (und Leser) als Gegengewicht und Sympathieträger gelten, sich immer mehr Rechte und Freiheiten erobern.

Leider kam der Autor durch seinen frühen Tod mit gerade einmal 53 Jahren nicht mehr dazu, noch weitere Geschichten aus der Zeit zu entwerfen, in dem sich Menschen und Tiermenschen gleichberechtigter miteinander auseinandersetzen müssen. Zumal der Autor auch einige Mainstream-Werke geschrieben hatte (außerhalb der Geschichten um die Instrumentalität der Menschheit hat Linebarger, der viele Pseudonyme verwendete und zumindest literarisch nicht gerne im Licht der Öffentlichkeit stehen wollte und seine Identität bis zu seinem Tod nur wenigen anvertraute, nur fünf phantastische Kurzgeschichten geschrieben; in Deutschland erschienen diese 1982 gesammelt im Moewig SF-Band „Instrumentalität der Menschheit“ zusammen mit anderen Storys aus seiner Future History) und zudem beruflich als Diplomat und politischer Berater und späterer Universitätsprofesser zeitlich sehr eingebunden war. Linebarger schrieb sogar ein Sachbuch über psychologische Kriegführung, welches sehr anerkannt war. Deshalb ist sein Werk innerhalb der SF schmal geblieben, dafür aber umso gewichtiger.

Im hier vorliegenden Werk kann man Cordwainer Smiths unnachahmliche Erzählungen nun endlich wieder bewundern. Poetisch geschriebene faszinierende Geschichten, die wie Legenden oder Mythen wirken, zumal die Erzählweise (inspiriert wohl von Linegargers Aufwachsen in Asien und Europa, da sein Vater dort lange Jahre in politischer Mission unterwegs gewesen war; Sun Yat Sen war sogar Klein-Pauls Patenonkel) oft so angelegt ist, dass ein „wissender Erzähler“ aus der fernen Zukunft berichtet, wie es dazu kam, dass ein legendäres Geschehnis passierte oder eine Person zum Mythos wurde, die heute noch von allen verehrt und geschätzt wird.

Die teilweise bis zu über 100 Seiten langen Texte sind auch heute wegen ihrer Sprachpoesie und der bizarren Ideen des Autors noch immer bemerkenswert, auch wenn Smith die Leser mit seiner Art zu schreiben polarisiert. Während ihn viele SF-Leser verehren, dürften Menschen mit eingeschränkter Phantasie zu den seltsamen Welten des Autors keinen Zugang finden und lehnen die Texte deswegen ab. Aber hierzu hat Cordwainer Smith im Vorwort zu „Herren im All“ selbst einmal so treffend bemerkt: „Was hier erzählt wird, mag Ihnen fremdartig erscheinen, aber es ist Ihnen in Wahrheit so nah wie Ihre eigenen Finger. Manche werden es sehr schön finden. Manche werden es nicht verstehen und weglegen. Das ist deren eigener Schaden, Leser, nicht Ihrer und nicht meiner“.

Man muss dem Heyne Verlag dankbar sein, dass er Cordwainer Smiths Meisterwerke wieder einem breiten Publikum zugänglich macht, auch wenn der Klappentext der hiesigen Ausgabe bei allen Kennern Widerspruch hervorrufen dürfte. So liegen die Geschichten der Instrumentalität hier nicht wirklich „vollständig“ vor (wenn auch rein formal alle Texte unterhalb von Romanlänge enthalten sind), denn es fehlen die beiden zusammengehörigen Romane „Der Planetenkäufer“ und „Die Untermenschen“, welche bereits 1979 beziehungsweise 1980 als Knaur-Taschenbücher 5720 und 5724 in Deutschland erschienen sind und im Original 1975 auch unter dem Titel „Nostrilia“ in gestraffter Form beziehungsweise in Einzelausgaben als „The Planet Buyer“ 1964 und „The Underpeopl“e 1968 erschienen sind. Auch kann die Formulierung „erstmals“ hier nicht wirklich gewürdigt werden, denn lediglich die 12 Seiten lange (und leider enttäuschende) Story „Allein im Anachron“ ist hier wirklich „neu“ und die 16 Seiten lange Kurzgeschichte „Krieg Nr.81-Q“ ist hier in der vom Autor überarbeiteten verlängerten Version zu lesen (die ursprüngliche Geschichte, die Linebarger im Alter von 15 Jahren 1928 veröffentlicht hatte und die nur wenige Seiten lang war, wirkte wie ein humorvoller Pennäleraufsatz), ist jedoch auch in dieser Überarbeitung kein Highlight des Erzählungsbandes.

Zu den besten Erzählungen gehören aber sicherlich „Die kleinen Katsen von Mutter Hudson“, „Scanner leben vergeblich“ oder „Die Lady, die mit der Seele segelte“, um nur einige zu nennen. Auch bei den wunderbaren Titeln drückt sich des Autors poetische Sprachbegabung aus, denn Titel wie „Alpha Ralpha Boulevard“, „The Lady who sailed the Soul“, „Mother Hitton´s Littul Kittons“, „The Dead Lady of Clown Town“ oder „Think Blue, Count Two“ sprechen für sich.

Die Übersetzungen stammen noch (bis auf die beiden oben erwähnten Ausnahmen, die Ulrich Thiele besorgte) vom leider zu früh verstorbenen deutschen SF-Autor und Übersetzer Thomas Ziegler und übertragen ein hohes Maß des Sprachgefühls des US-amerikanischen Autors ins Deutsche. Heyne hat gut daran getan, diese hervorragende Arbeit Zieglers beizubehalten.

So liegt sie nun endlich wieder in einer aktuellen deutschen Ausgabe vor, eine der legendärsten Future Histories der SF, eine Geschichte von Macht, Intrigen und Heldentaten, von Unterdrückung und Auflehnung, von Leid, Schmerz und Glück, eine Geschichte, praller als jedes reale Leben, dabei aber selten pathetisch oder langweilig, oft bizarr und mitreißend, immer poetisch und anrührend, aber nie gewöhnlich, normal oder durchschnittlich. Entweder sie packt den Leser und zieht in gänzlich in seinen Bann, oder sie entzieht sich seinem Horizont vollständig. Aber, wie sagte der Autor hierzu: „Das ist deren eigener Schaden, Leser, nicht Ihrer und nicht meiner“.