Cho Nam-Joo: Miss Kim weiß Bescheid (Hörbuch)

Cho Nam-Joo
Miss Kim weiß Bescheid
(Miss Kim Knows And Other Stories, 2021)
Übersetzung: Inwon Park
Gekürzte Lesung von Christiane Marx, Sabine Arnhold
Argon, 2022, Download, ca. 702 Minuten, 20,95 EUR

Rezension von Irene Salzmann

Cho Nam-Joo wurde 1978 in Seoul/Süd-Korea geboren, wo sie gegenwärtig mit ihrer Familie lebt. Ihre Publikationen sind geprägt von persönlichen Erlebnissen und Beobachtungen. Vorzugsweise thematisiert sie aus weiblicher Sicht die Traditionen und Regularien, die das Leben der Menschen bestimmen, insbesondere das Einfügen in hierarchische, patriarchalische Strukturen, und die Bemühungen, sich diesen wenigstens teilweise zu entziehen. 

Ob Kleinkind, Schüler, Student, Berufstätiger, Erwachsener mit eigener Familie oder Rentner - es wird von jedem erwartet, dass er den ihm zugewiesenen Platz einnimmt und seine Pflichten nach bestem Vermögen erfüllt, um dem Ansehen von Familie und Firma nicht zu schaden. Ein Aufbegehren ist nicht vorgesehen, wer mit den Konventionen bricht, wird gemobbt und gesellschaftlich isoliert; ein Schicksal, das vor allem moderne Frauen trifft, die sich nach Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und mehr persönlichen Freiheiten zur Selbstverwirklichung sehnen.

Dieses Streben spiegeln die Charaktere im Buch von Cho Nam-Joo wider, stellvertretend für Mädchen und Frauen mit ähnlichen Lebensgeschichten. Die Protagonistinnen sind ungefähr zwischen acht und achtzig Jahre alt, stammen aus eher einfachen bürgerlichen Milieus und müssen sich zeitgenössischen Problemen stellen, die nicht auf Korea beziehungsweise den asiatischen Raum begrenzt sind.


Eine Schülerin ist mit einem Jungen aus ihrer Klasse befreundet, der mit ihr ‚gehen‘ möchte. Sie stimmt zu, obwohl sie nicht wirklich weiß, was das bedeutet und ob sich dadurch etwas verändert. Ferien, unterschiedliche Nachhilfekurse, Corona bedingte finanzielle Engpässe der Eltern und schließlich eingeschränkte Unterrichtszeiten wirken sich auf diese erste zarte Liebe aus. Statt sich einander anzuvertrauen, wird aus Scham ob der plötzlichen Armut geschwiegen.

Schülerinnen, die ständig von den Jungen an ihrer Schule sexuell belästigt werden, stellen diesen eine Falle und filmen, wie sie bedrängt werden. Das Geschehen lässt sich nun nicht mehr als dummer Streich bagatellisieren, dennoch fürchten sich die Mädchen, ebenfalls bestraft zu werden, falls herauskommt, dass sie sich nicht anders zu helfen wussten, als die Situation zu provozieren.

Eine junge Autorin erregt durch ihr Buch große Aufmerksamkeit. Ein Teil der Leserschaft beglückwünscht sie zu ihrem Mut, die traditionelle Rollenverteilung und von Männern ausgehende Gewalt zu kritisieren, ein anderer empfindet diesen Tabubruch als Hetze gegen Männer, und es gibt sogar Personen, die behaupten, in dem Roman wären ihre eigenen Geschichten vermarktet worden. Kaum jemand von ihnen will glauben, dass die Verfasserin ähnlich traumatische Erlebnisse zu bewältigen hat. Die Autorin sieht sich einem Shitstorm ausgesetzt.

Ein Knabe wird fortwährend von einer Gruppe anderer Jungen gequält, bis sich die toughe Großmutter die Bande vorknöpft.

Der Neuzugang in der Firma muss sich in die Hierarchie der Angestellten einfügen, die allesamt in irgendeiner Weise miteinander verbandelt sind. Falls etwas nicht funktioniert, erinnert man sich mit Bedauern an die mysteriöse Vorgängerin Miss Kim, welche sich unermüdlich abgerackert und viele Aufgaben mehr erledigt hat, als ihr Tätigkeitsbereich vorsah, doch niemand hat es ihr je gedankt, weder in Worten noch durch eine angemessene Entlohnung. Es hat nicht einmal jemanden gekümmert, was nach dem Ausscheiden aus dem Unternehmen aus Miss Kim wurde.

Eine ältere Frau möchte sich endlich einen langjährigen Traum erfüllen und bucht zusammen mit ihrer Schwiegermutter eine Reise nach Kanada, um die Nordlichter zu bestaunen. Damit setzt sie sich über die Wünsche ihrer Tochter hinweg, die verlangt, dass sich die Mutter um den Enkelsohn kümmert, so wie sie selber einst von ihrer Großmutter betreut wurde. Die Ablehnung treibt einen weiteren Keil zwischen die beiden. Nichtdestotrotz genießen die verwitweten Frauen unbeschwert ihren Aufenthalt und vor allem den Ausbruch aus dem traditionellen Käfig.

Das Familienoberhaupt, ein Rentner, verschwindet ganz plötzlich und hinterlässt nur die kurze Nachricht, dass man ihn nicht suchen solle. Zurück bleiben die schockierte Ehefrau, die rasch lernen muss, sich um alltägliche Dinge zu kümmern, welche ihr Mann nie aus der Hand hatte geben wollen, sowie die erwachsenen Kinder, die ihr eigenes Leben führen und nun als Familie wieder ein wenig enger zusammenrücken. Obschon die Tochter über ihre Kreditkarte, die sie dem Vater einst überließ, seine Aufenthaltsorte nachvollziehen kann und dadurch erfährt, dass es ihm offenbar gutgeht, trifft sie ihn niemals an. Die deprimierende Erkenntnis, die alle daraus ziehen, ist, dass er die Familie nicht vermisst und auch dieser ohne ihn nichts fehlt, der Alltag selbst im Falle seiner Rückkehr einfach weiterginge.

Eine Rentnerin besucht regelmäßig ihre ältere Schwester im Pflegeheim. Auf dem beschwerlichen Weg zwischen Wohnung und Einrichtung erinnert sie sich nüchtern an frühere Jahre, an die bereits verschiedene Schwester, an die eigene Familie und reflektiert das unabwendbare Älterwerden und Sterben.


Die Geschichten sind oft mit Rückblenden versehen und eher schlicht, dafür umso eindringlicher erzählt, im Hörbuch vorgetragen von Christiane Marx und Sabine Arnhold, denen es gut gelingt, den Mädchen und jungen Frauen einen rebellischen Charakter zu verleihen respektive die reifen Damen teils resigniert, teils in unverhoffter Aufbruchstimmung darzustellen.

Die Protagonistinnen befinden sich in einem ständigen Konflikt aus Erwartungen und Anforderungen, die das Umfeld an sie stellt, sowie den damit selten zu vereinbarenden persönlichen Wünschen. Manchmal grollen sie tief in ihrem Innern, weil sie sich ungefragt und widerwillig fügen müssen, dann wieder schaffen sie sich Freiräume im Rahmen des Möglichen oder leisten tatsächlich Widerstand.

Ihre Probleme verursachen in erster Linie männliche Verwandte, Nachbarn und Kollegen: Meist werden die Söhne den Töchtern vorgezogen (bessere Schule/Universität und Ausbildung, finanzielle Zuwendungen), die Väter und nach ihrem Ableben die Söhne dominieren die Familie (Verwaltung der Finanzen, Kontrolle der Lebensweise der weiblichen und jüngeren Familienmitglieder auch durch Drohungen und Gewalt), Übergriffe von Mitschülern und Kollegen sowie Mobbing werden bagatellisiert und tabuisiert, die Arbeitsleistung von Frauen wird nicht angemessen honoriert und vergütet, Erfolg schafft Neider und Hass.

Aber auch die Frauen sind ihr eigener Feind, denn sie halten selten zusammen. Stattdessen beobachten sie einander mit Argwohn, damit keine vielleicht einen Vorteil erringt, spielen ihren Status (Alter, Bildung, Stand) aus, versuchen, damit die eigenen Belange durchzusetzen, was beim altersbedingten Rollenwechsel prompt auf sie zurückfällt - und erfüllen so letztendlich die vorgegebenen Traditionen auch in der Moderne. Und wenn das noch nicht reicht, plagen sie Schuldgefühle, selbst wenn sie folgsam waren und lediglich in Gedanken rebelliert haben.

Der kulturelle Hintergrund mag in Korea ein anderer sein, doch die gesellschaftlichen Zwänge und die Sorgen der Menschen, Frauen und Männer gleichermaßen, sind im Endeffekt dieselben.

„Miss Kim weiß Bescheid“ bietet einen interessanter Einblick in das Korea der Gegenwart, welches manche Leser/Hörer schon aus diversen Manhwas zu kennen glauben. Eindringlich und anklagend erzählt, aber aus nur einer - der weiblichen - Perspektive (dass auch Jungen und Männer Mobbing und Gewalt erfahren, bleibt hier ein wenig beachtetes Randthema), wodurch das Bild leider etwas verzerrt wird.