ARS LITTERAE 10: Die Knochenkirche, Alisha Bionda (Hrsg.) (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Donnerstag, 24. Februar 2022 22:58

ARS LITTERAE 10
Die Knochenkirche
Alisha Bionda (Hrsg.)
Titelbild und Innengrafiken: Crossvalley Smith (basierend auf Fotografien von Florian Hilleberg)
Fabylon, 2014, Paperback, 248 Seiten, 14,90 EUR
Rezension von Elmar Huber
1866 beauftragte die Fürstenfamilie Schwarzenberg den Holzschnitzer František Rint aus Skalitz mit der Innenausstattung des Ossariums im Untergeschoss der Allerheiligenkirche auf dem Sedletzer Friedhof. Als Baumaterial sollten ihm die im Beinhaus eingelagerten Knochen der Pest-Toten und der Opfer der Hussitenkriege dienen, die im Untergeschoss des Kirchengebäudes eingelagert waren. Von etwa 40.000 Skeletten wurden rund 10.000 verwendet, um das kunstvolle Inventar der Kirche zu erschaffen. Seitdem ist das Gotteshaus als die Knochenkirche bekannt.
„Doch es gibt Orte auf dieser Welt, an denen sich die Toten versammelt haben, um uns ihre Geschichten regelrecht entgegenzubrüllen. Nirgends sind die Stimmen der Toten so laut und kräftig, so unüberhörbar wie dort. Geheime Knotenpunkte, über die man meist nur zufällig stolpert. Oft sind es geschichtsträchtige Orte. Oder Zentren des Todes, wie etwa ehemalige Schlachtfelder oder längst vergessene, untergegangene Städte. Dann gibt es noch Plätze, an denen man die Toten absichtlich zusammengetragen hat. Friedhöfe, zum Beispiel, Massengräber oder Todesbunker." (Tobias Bachmann: „Das nekrotische Sakrament“)
Vincent Voss: „Knochenflüstern“
Sedlec 1510: Um die geplante Kirche auf dem Sedletzer Friedhof bauen zu können, muss ein Teil der Toten umgebettet werden. Einer der drei Mönche, die die Gebeine der Verstorbenen ausgraben, fängt plötzlich an, mit den Knochen zu sprechen.
1866: Der Holzschnitzer Frantisek Rint erhält von Fürst Schwarzenberg den Auftrag, das Ossarium der Kirche mit seinen Holzarbeiten auszukleiden. Doch plötzlich beginnen die dort aufgeschichteten Knochen, zu ihm zu flüstern.
Heute: Anna Rint, eine Urenkelin von Frantisek Rint, wird bei Pater Nemec vorstellig. Ihr Sohn hat beim Spielen im Keller eine aus Knochen gefertigte Miniatur der Knochenkirche gefunden. Offenbar ein Erbstück von Frantisek selbst. Und die Miniatur weint schwarze Tränen.
Gabriele Ketterl: „Das Flammenopfer“
Auf dem Weg zu ihrem Freund nimmt Silvana die falsche Abzweigung und steht plötzlich vor der verlassenen, abgebrannten Burgruine. Plötzlich werden die Geister der Vergangenheit lebendig, und Silvana sieht sich halbverbrannten Kreaturen gegenüber, bevor ihr ein geheimnisvoller Mann die Flucht vor den lebenden Leichen ermöglicht.
Guido Krain: „Das Gefängnis“
Bei seinem Eintritt in die Knochenkirche saugt einer der Schädel den Besucher förmlich in die Vergangenheit. Dort wird er Zeuge des grausamen Wirkens des blinden Generals Jan Zizka ebenso wie von dessen Tod, den heute noch ein Geheimnis umgibt.
Tobias Bachmann: „Das nekrotische Sakrament“
Der einzelgängerische Jan Kerner ist fasziniert von Grabsteinen und Friedhöfen. Er kartographiert die Totenäcker regelrecht. Als er von der Knochenkirche von Kutná Hora erfährt, sieht er sein bislang größtes Projekt darin, herauszufinden, wer die Toten waren, deren Gebeine dort im Inneren der Kirche verbaut wurden. Hilfe erhofft sich Kerner von einem alten Prager, der übersinnliche Forschungen betreibt und dem Deutschen seine Hilfe anbietet. Doch bald bemerkt Kerner, dass der Alte eigene Ziele verfolgt.
Florian Hilleberg: „Die Knochenkirche“
Nachdem ein Detektiv, der für seinen Auftraggeber eine der beiden Monstranzen aus der Knochenkirche stehlen sollte, spurlos verschwunden ist, soll eine Gruppe Söldner diesen Job erledigen. Doch als die vier Profis vor Ort eintreffen, müssen sie feststellen, dass sie nicht alleine sind. Außer ihnen tummelt sich dort eine Familie aus Deutschland, die einem geheimnisvollen Ruf gefolgt ist.
Ladina Bordoli: „Rebekkas Licht“
Um den Kronleuchter der Knochenkirche, der angeblich aus allen Knochen des menschlichen Skeletts besteht, rankt sich eine seltsame Legende: Der Schöpfer dieses Kunstwerks, Frantisek Rint, soll sich vor dem Beginn einer Arbeit in die Verlobte des Bauherrn verliebt haben, die später im Kindbett verstarb. Aus ihren Knochen ist „Rebekkas Licht“, wie der Kronleuchter genannt wird, angeblich gefertigt. Und angeblich soll Frantiseks Geist noch immer die Kirche besuchen, um seiner Geliebten nahe zu sein.
Lothar Nietsch: „Er“
Ein unergründliches Verlangen zieht den introvertierten Jan förmlich in die Knochenkirche. Kaum hat er das makabre Gotteshaus betreten, suchen ihn Visionen eines grausamen Dämons heim. Doch sind es tatsächlich nur Wahnvorstellungen?
Sören Prescher: „Waldemars Beichte“
Als Vater Christoph die Knochenkirche von Kutná Hora besucht, spricht ihn plötzlich ein Mann namens Waldemar an, der ihn bittet, ihm die Beichte abzunehmen. Waldemar schien von Geburt an etwas vorherbestimmt zu sein. Eine Wahrsagerin kreuzte Waldemars Weg, und in ihren Visionen spielt er eine entscheidende Rolle beim bevorstehenden Untergang der Welt. Doch gleich mehrere Termine, die sie für den Exodus benennt, verstreichen, ohne dass etwas passiert. Aus Enttäuschung beginnt Waldemar selbst, sich mit dem Okkulten zu beschäftigen und gerät an einen Dämon namens Zholduk. Nur in der Knochenkirche ist es ihm möglich, den Dämon wieder abzuschütteln. Waldemars Hoffnungen erfüllen sich, und Vater Christoph ist gezwungen, dem Dämon entgegen zu treten.
Martin Barkawitz: „Golem-Rache“
Der junge adlige Ludwig ersucht den zauberkundigen Dr. Samuel aus dem Prager Ghetto um ein Treffen in der Knochenkirche von Sedlec. Er erteilt dem Alten den Auftrag, die schöne Lea, die angeblich von dem gewalttätigen Baron Schach entführt wurde, zu befreien und in die Knochenkirche zu bringen. Es gelingt dem Magier, das Mädchen zu befreien, doch zum Dank entledigt sich Ludwig kurzerhand des unliebsamen Mitwissers. Aber Samuel hat für diesen Fall vorgesorgt.
Desirée Hoese: „Knochenspiel“
Zuerst wirkt der attraktive junge Mann, der sich in einem Hotel in Kutná Hora einmietet und scheinbar Männlein wie Weiblein durch seinen bloßen Anblick zu verführen imstande ist, wie ein ganz alltäglicher Besucher der Knochenkirche. Doch in der Nacht kehrt er heimlich zu der Kapelle zurück und setzt seinen wahren Plan in die Tat um.
„Die bleierne Stille, die diesen Ort erfüllte, hatte nichts mit dem üblichen Schweigen geweihter Hallen zu tun. Imaginäre Schreie schienen von den Wänden widerzuhallen, durchzogen von einem unablässigen Flüstern, welches eine Geschichte erzählte, die niemand hören wollte. Bleiche Knochen, denen eine letzte Ruhe auf makabre Weise verwehrt worden war, beraubten das Kirchengewölbe jeglicher Heiligkeit." (Ladina Bordoli: „Rebekkas Licht“)
Vor einigen Jahren besuchte Florian Hilleberg die sogenannte Knochenkirche von Kutná Hora im dortigen Stadtteil Sedlec. Eine Auswahl seiner Fotoaufnahmen des Interieurs bebildert nun diese Sammlung von Kurzgeschichten, zu denen dieses morbide Kunstwerk die Inspiration lieferte. Dazu aktivierte Alisha Bionda einmal mehr ihr Autoren-Netzwerk, das insgesamt zehn Erzählungen unterschiedlicher Couleur um die Knochenkirche von Kutná Hora ablieferte.
Vincent Voss bietet in der Eröffnungsgeschichte gleich einen Rückblick in die Entstehungszeit der Knochenkirche und eine These, was den Holzschnitzer Frantisek Rint wohl zu diesem außergewöhnlichen Kirchenschmuck verleitet hat. Zweifellos waren dabei übernatürliche Mächte am Werk, die in der Gegenwart noch wirken, denn auch Rints Nachfahrin spürt den Ruf einer überirdischen Macht.
Eine Idee, die Florian Hilleberg himself in der Titelgeschichte aufgreift. Sein Beitrag „Die Knochenkirche“ ist der längste der Sammlung und bedient sich ganz bewusst eines Groschenheft-Szenarios, wie es Jason Dark nicht besser hinbekommen hätte. Neben einigen schwerbewaffneten Söldnern ist hier auch Frantisek Rints Geist unterwegs, der die Nähe seiner einstigen Geliebten sucht. Ein Thema, das auch Ladina Bordolis herausragender und sehr viel romantischer gefärbter Beitrag „Rebekkas Licht“ teilt.
Man kann innerhalb der Sammlung also durchaus thematische Ketten erkennen, die sich wohl auf die ‚offiziellen‘ Legenden um die Knochenkirche stützen.
Andere Beteiligte machen das Gebäude, bei dem es sich im Grunde um ein Massengrab handelt, zum machtvollen Schnittpunkt dämonischen Wirkens, dem immer wieder arglose, doch auch ahnungsvolle Menschen anheimfallen. Obschon die Ansiedlung dieser Erzählungen in und um die Knochenkirche nicht notwendig wäre, ist es natürlich nachvollziehbar, diesem makabren Bauwerk eine solch mystische, lockende Macht zuzuschreiben, die das Übernatürliche in all seinen Facetten anzieht. Guido Krain, Tobias Bachmann, Lothar Nietsch, Sören Prescher und im weiteren Sinne auch Martin Barkawitz und Desirée Hoese wählen diesen Weg.
Abgerundet wird die Sammlung von einem kurzen, doch informativen Essay von Florian Hilleberg.
Dass nicht jedem Leser alle Geschichten ausnahmslos oder gleich gut zusagen, liegt in der Natur einer Anthologie, die einiges an Abwechslung bieten soll. Ungeteilt positiv ist jedoch die gewohnt schmucke Ausstattung zu bewerten. Jeder Geschichte ist eine Entry-Grafik vorangestellt, bei der es sich um eines der Fotos von Florian Hilleberg handelt, die von Grafiker Crossvalley Smith effektvoll bearbeitet wurden und die einen Eindruck dieses kunstvollen Beinhauses vermitteln. Ebenso die Covergrafik, die wieder einmal nahtlos in das elegante Reihenlayout eingefügt wurde. Die Verarbeitung des großformatigen Taschenbuchs lässt ebenfalls keine Wünsche offen.
Erwähnenswert ist noch, dass dieser Band um etwa fünfzig Seiten umfangreicher ist als die Vorgängerbände der „ARS LITTERAE“-Reihe, jedoch zum gleichen Preis angeboten wird.
„Die Knochenkirche“ ist eine stilvoll gestaltete Anthologie, die sich auf phantastische Art ganz um die makabre Knochenkirche von Kutná Hora dreht und dabei eine Spannbreite von Pulp-Action bis kunstvoll-romantisch bedient.