Saskia Louis: Die Lügendiebin (Buch)
- Details
- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Samstag, 19. Februar 2022 11:51
Saskia Louis
Die Lügendiebin
Ueberreuter, 2022, Hardcover, 414 Seiten, 20,00 EUR (auch als eBook erhältlich)
Rezension von Carsten Kuhr
Tag für Tag, Nacht für Nacht gehen die Angriffe auf die belagerte Stadt Mentanos weiter. Die Weißen Magier leisten ihren Dienst beim Aufrechterhalten des Schutzschirmes, die Roten Magier kümmern sich um die innere Sicherheit. So war es seit Jahrzehnten, so wird es bleiben. Innerhalb der Stadt, die von einem König regiert und von den Magiern beherrscht wird, sind die Schichten streng voneinander getrennt. Hier die Adeligen im weißen Kreis, dort die Arbeiter im Grauen.
Fawn, deren verstorbene Mutter einst zu den Roten Magiern gehörte, wuchs im grauen Kreis auf. Sie hat ein geringes Magie-Talent, doch gibt es etwas, das sie weit besser beherrscht, als die anderen: Sie kann Lügen von den Lippen lesen. Spricht jemand die Wahrheit, so entfleucht ein weißer Nebel dem Mund, ist der Atem rot, ist es eine Lüge. Und auf Lügen hat sie sich spezialisiert - kann man diese doch in Phiolen sammeln und für teuer Geld verkaufen.
Immer wieder steigt sie als Fassadenkletterin in die Villen der Reichen ein, versteckt sich in Belüftungsschächten und fängt Unwahrheiten auf. Schon mehrfach hat sie dabei das Anwesen der Falcrons, einer der mächtigsten Familien der weißen Magier heimgesucht, als sie von Caeden Falcron, dem Sohn des jüngst ermordetet Anführers der Weißen Magier auf frischer Tat erwischt wird. Dessen Mutter bietet ihr einen Deal an: Statt in den Diamanten-Minen oder gar auf dem Schafott zu landen, soll sie vorgeben, die Verlobte Caedens zu sein und helfen herauszufinden, wer dessen Vater ermordet hat.
Ein Angebot, das sie am liebsten ausschlagen möchte, jedoch angesichts der Folgen nicht kann. Gleichzeitig bietet ihr dies die willkommene Gelegenheit endlich in den Kreis der Dunkeldiebe aufgenommen zu werden, so sie diese mit Lügen aus der Haute Vollee versorgt. Darüberhinaus stößt sie auf Hinweise, dass ihre Mutter in diesen Kreisen weit mächtiger und angesehener war, als sie dies bislang vermutete.
Auf der Habenseite kann sie verbuchen, dass sie die Mächtigen der Stadt kennenlernt, ihnen ihre Lügen von den Lippen ablesen kann - die Sollseite bringt ihr emotionale Verwirrungen, Lügen und Verrat von Menschen, denen sie vertraut hat.
Der erste Band einer Dilogie, dessen abschließender Teil für Herbst dieses Jahres in Vorbereitung ist, bietet uns einen spannend aufgezogenen Plot. Eigentlich mehr ein in sich nicht abgeschlossener Roman, dessen erste Hälfte wohl wegen des Umfangs in diesem Buch erscheint, während der Abschluss dann in einem zweiten Titel nachgereicht wird, weiß er mit einigen gängigen Versatzstücken aufzuwarten, bietet dann aber auch immer wieder überraschend Eigenes.
Dass Bekannte findet sich in der Gesellschaftsordnung; König, Adelige, Magier und Arbeiterschicht mit ihren Verbrecher-Organisationen, dazu eine belagerte Stadt - und genau da wird es interessant. Wer hat Mentanos angegriffen? Die Motivation soll in dem Diamanten-Reichtum der städtischen Minen begründet liegen, wie aber entstand der Schutzschirm, wie wird er magisch aufrechterhalten, was verbirgt der König? Da wird es spannend.
Dazu gesellt sich eine junge Erzählerin, die uns, vorlaut wie sie ist, wagemutig bis hin zu hazardiös, schnell ans Herz wächst. Sie meint es gut, sie versucht ein wenig Glück, Geborgenheit, eine Familie zu finden, gerade auch, weil ihr Vater sie nach dem Tod ihrer Mutter meidet, ihr Bruder sie verachtet. Als sie scheinbar in dem Lord Kaltherz, wie sie Caeden nennt, etwas wie Kameradschaft, ein klein wenig Mitgefühl ja eine gewisse Zuwendung zu erkennen glaubt, fasst sie Vertrauen - auch weil ihre Gaben gewürdigt werden, sie den Eindruck hat, etwas bewirken zu können. Hier gelingt es der Verfasserin sehr gut uns die Gefühlslage ihrer Protagonistin nahe zu bringen.
So sind es die wenigen Figuren, die dem Roman sein Gepräge geben. Die abgeschottete Bühne der Stadt mit ihren klaren inneren Grenzen zwischen den Reichen und Mächtigen auf der einen Seite, den Armen und Rechtlosen auf der anderen ist leidlich bekannt. Die vielschichtig gezeichneten Gestalten, ihre Interaktion und die spitzigen Dialoge machen die Lektüre zum Selbstläufer.