Natasha Pulley: Der Uhrmacher in der Filigree Street (Buch)

Natasha Pulley
Der Uhrmacher in der Filigree Street
(The Watchmaker of Filigree Street, 2015)
Übersetzung: Jochen Schwarzer
Hobbit Presse, 2021, Hardcover, 448 Seiten, 24,00 EUR (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Carsten Kuhr

Alles beginnt an einem Tag, der so typisch für mein Leben ist. Gestatten, dass ich mich vorstelle: Thaniel Steepleton der Name, seit vier Jahren nun in Diensten des Innenministeriums an sechs Tagen die Woche im Schichtbetrieb in der Telegraphenabteilung beschäftigt. Ich wohne in einem kleinen, austauschbaren Zimmer einer Männerpension, schicke die Hälfte meines Gehalts an meine verwitwete Schwester nach Schottland und habe keine Hobbys. Früher einmal, in meiner Jugend, hatte ich den Traum als Musiker am Klavier meinen Lebensunterhalt zu verdienen - die Noten und Partituren in der abgeschlossenen Kassette unter meinem Bett sind das traurige Überbleibsel meiner hehren Pläne.

Irgendjemand hat mir ein Präsent vorbeigebracht: eine teure, goldene Taschenuhr, die so gar nicht zu mir passt. Selbige rettet mir, bei einem Bombenattentat der irischen Nationalisten, das Leben, befördert mich damit aber gleichzeitig auf der Liste der Verdächtigen, denen Scotland Yard nachspürt, ganz nach oben.

Die Spur führt mich wie den Yard zu einem Uhrmacher in der Filligree Street, einem Japaner, dessen Kreationen derart phantastisch und ausgeklügelt sind, dass sie eigenes Leben zu besitzen scheinen. Ich miete mich bei ihm ein, eigentlich um ihn auszuspionieren - ja, ein Arbeitsplatzwechsel und eine kleine Gehaltserhöhung gab es in diesem Zusammenhang auch - dann aber, weil mich der kleine Japaner mehr und mehr fasziniert.

Ähnlich wie ich auch, scheint er eine Gabe sein Eigen zu nennen. Während ich Töne als Farben wahrnehmen kann - was mir sowohl beim Notenlesen wie bei dem Studium von Fremdsprachen sehr zupass kommt -, sieht er die Zukunft und dies ganz ohne Kristallkugel… pardon für den eher mauen Scherz.

Einst war er der Mann, der den kommenden japanischen Innenminister unterstützte, jetzt kreiert er Uhrwerke, die dermaßen ausgeklügelt sind, dass die Schöpfungen ein eigenes Leben zu besitzen scheinen und sich bestens für das Zünden einer Bombe eignen würden. Sein Ziel: sich endlich einmal von der Zukunft überraschen zu lassen - und hier kommt ein weiterer Bombenanschlag und meine jüngst Angetraute, die, sehr zu meinem Leidwesen, auf einen Vollzug der Ehe drängt, ins Bild.


Was ist das für ein Roman, den die Hobbit Presse hier vorlegt? Ein sehr ruhiger Plot, der angenehm zu lesen vor sich hin fließt. Ein Handlungsbogen, der wenig Dramatisches für den Leser bereithält. Sicherlich, es gibt mehrere Bomben-Attentate, den Versuch jemanden zu ermorden - doch eigentlich ist dies gar nicht wichtig.

Wichtig sind stattdessen die Figuren in diesem Stück Prosa, die uns fast unbemerkt aber doch immer fester in ihren Bann ziehen.

Zu Beginn begegnet uns ein zutiefst einsamer Mensch. Ein Mensch, dessen Leben keinerlei Freude enthält, dessen Alltag immer gleich monoton abläuft. Erst durch die Verwicklung in die Anschläge beginnt er wirklich zu leben, Neues zu erkunden und sich zu entwickeln. Es ist faszinierend, wie sich unser Protagonist nach und nach, wie eine erblühende Blume, öffnet, wie er Gefühle zulässt und zu einer Persönlichkeit heranwächst.

Es sind die kleinen Geschichten innerhalb der Geschichte, die uns ergreifen. Etwa die Beschreibung des jungen Uhrmachers in seiner Heimat, die Berichte über Thaniels spätere Frau, die für ihre Forschung lebt und aufgrund ihres Geschlechts immer wieder vor Mauern steht, oder die Darstellung der verknöcherten Bürokratie des Empires und seiner Diener. Die Autorin nimmt sich hier, zunächst gut verborgen, dann immer deutlicher zutage tretend, viele wichtige Themen an. Gleichberechtigung von Mann und Frau, Toleranz gegenüber anderen Rassen und Kulturen, Akzeptanz von gleichgeschlechtlichen Beziehungen werden überzeugend integriert angesprochen.

So ist dies ein Buch, das anders, leiser und ruhiger daherkommt, als der typische Fantasy-Roman. Die phantastischen Motive sind sehr dezent eingestreut, es geht der Verfasserin mehr darum, uns ihre Figuren begreifbar und nachvollziehbar zu machen. Und dies ist ihr auf höchst erstaunliche und respektable Art und Weise gelungen!