Selina Schuster: Absinthe (Buch)

Selina Schuster
Absinthe
Titelbild: Kim Hoang
Dryas, 2021, Taschenbuch, 204 Seiten, 12,00 EUR (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Carsten Kuhr

Willkommen im Paris der Belle Époque. Inmitten des Künstlerviertels Montmartre, umrahmt von der Basilika Sacré-Cœur und der Kathedrale Notre-Dame, pulsiert das Leben, das Savoir-vivre und die Kunst. In kleinen Kneipen, in Bistros und den vielen Nachtclubs wird bis in die Puppen gefeiert, genießen Adelige, Arbeiter und mondäne Reiche die Shows des „Moulin Rouge“ und besuchen Ausstellungen vielversprechender Künstler. Wie nirgendwo sonst auf der Welt gedeiht in dieser Stimmung die Kunst, werden Meisterwerke initiiert, befruchten sich Kunstgattungen gegenseitig.

Dies alles hilft allerdings Noël Poisonnier, talentierter, was sage ich: vielversprechender - Maler aus der Provinz und enger Freund Thujon Toulouse-Lautrecs nicht weiter, hat diesen doch seine Muse verlassen. Seit Monaten starren ihn die weißen Leinwände an, statt sich mit Farben und Motiven zu füllen.

Thujon hat er es zu verdanken, dass er im Turm des „Moulin Rouge“ einen faszinierenden Mann kennenlernt, dessen Ausstrahlung, dessen Ideen und dessen Zuwendung ihm die so lange versiegte Inspiration zurückbringen. Eine Ausstellung im Salon des Indépendants winkt ihm, wenn er denn binnen Monatsfrist vier Gemälde fertig bekommt.

Dafür aber, das ahnt er (besser: das weiß er genau), braucht er die Inspiration durch Thujon, den geheimnisvollen Mann mit den grünen Augen, der ihm nicht nur körperliche Wonnen schenkt, sondern auch seinen Schaffensgeist mit Ideen füttert - bis er dessen dunklen Geheimnissen auf die Spur kommt.

 

Selina Schuster legt einen wohltuend kurzen Roman vor, der von ihrer Liebe zur Kunst, von ihrer Faszination für Paris und die Belle Époque beredt Zeugnis ablegt. Mit wenigen Sätzen zeigt sie uns die ganz besondere Welt der Künstler, macht uns die besondere Atmosphäre im Quartier begreifbar und entführt uns in eine Zeit, da die Muse scheinbar allgegenwärtig war. Geschickt baut sie dabei historische Figuren und Orte als Kulisse ihrer Handlung ein. Und diese führt uns lange, bis ins Finale, auf die falsche Spur - mehr wird hier nicht verraten.

Stilistisch sehr gekonnt und variabel zieht sie uns in ihren Plot, in dem jedes Wort, jede Andeutung sitzt, in der die - wenigen - Figuren schnell Kontur annehmen, wir dem Schicksal unseres Malers gebannt folgen. Wir sehen, wie er fast an seiner Blockade zerbricht, wie er zweifelt - an sich, seinem Talent, seiner Bestimmung - wie er, nachdem er dem Unbekannten begegnet ist, in einen Schaffensrausch gerät, sich emotional und körperlich immer mehr auf diesen einlässt und stützt.

Hier zeichnet die Autorin das Bild einer zunächst verzweifelten Kreatur, die dann Hoffnung schöpft, beginnt an sich zu glauben und die ihr innewohnende Potenz auf die Leinwand bringt.

So ist dies ein phantastischer Roman, wie ich ihn von der Anlage her seit Längerem nicht mehr gelesen habe. Das Übernatürliche kommt spät in die Handlung, die sich ganz auf die Zeichnung des Protagonisten stützt und uns dessen Schicksal ergreifend schildert. Chapeau!, Madame Schuster: gut gemacht!