Sara Paretzky: Kritische Masse (Buch)

Sara Paretzky
Kritische Masse
V. I. Warshawski 16
(Critical Mass, 2013)
Übersetzung: B. Szelinski
Ariadne, 2018, Hardcover, 540 Seiten, 23,99 EUR, ISBN 978-3-86754-236-4 (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Irene Salzmann

„Kritische Masse“ ist der 16. Roman, der sich um Victoria Iphigenia Warshawski, Vic genannt, rankt beziehungsweise in der chronologischen Reihenfolge unter Berücksichtigung eines Kurzgeschichtenbandes, „Windy City Blues“, der 17. von gegenwärtig 20 Titeln. Das erste Buch erschien 1982, das aktuelle stammt von 2020 und ist wie die beiden vorherigen Romane noch nicht in deutscher Sprache erhältlich.

 

Vics Schöpferin Sara Paretzky, Jahrgang 1947, ließ sich für diesen Charakter gern von den harten Detektiven des crime noir inspirieren, übertrug deren rauen Charme auf eine toughe Anti-Heldin, die als Privatdetektivin von ihrem Chicagoer Büro aus mit Beharrlichkeit, wenig Feingefühl, einer Pistole und Karate nicht bloß in Fällen von Wirtschaftskriminalität ermittelt, sondern auch die oft damit einhergehenden Todesfälle aufzuklären versucht. Nicht selten sind Vics Aufträge wenigstens eine Nummer zu groß, was sie regelmäßig schmerzhaft zu spüren bekommt, und selbst wenn es ihr gelingt, die wahren Täter aufzuspüren, so sind diese meist viel zu einflussreich, um mit mehr als einer lächerlichen Strafe davonzukommen.

Die Autorin studierte Politikwissenschaften, Ökologie und Geschichte. Sie war als Sozialarbeiterin und im Marketing einer Versicherungsgesellschaft tätig. 1986 gründete sie zusammen mit anderen Autorinnen das Netzwerk Sisters in Crime. Sie engagiert sich gegen Sexismus und Rassismus und äußert sich kritisch auf ihrem Blog zur Politik. Dieser persönliche Hintergrund fließt in ihre Krimis mit ein.


Eigentlich ist das nicht wirklich Vics Gebiet, dennoch begibt sie sich auf die Bitte ihrer Freundin, der Ärztin Charlotte Herschel, auf die Suche nach einer vermissten Patientin, der drogenabhängigen Judy Binder. Die Spur führt sie aufs Land zu einem verlassenen Crackhouse, das außer einem verletzten Hund nur wenige Hinweise zu bieten hat. Dennoch bleibt sie an der Sache dran und erfährt, dass Judys Sohn Martin, ein Computer-Genie und Geheimnisträger, ebenfalls vor Kurzem verschwunden ist. Sein Arbeitgeber befürchtet, dass er übergelaufen sein und alles Wissen anderen Konzernen oder gar fremden Mächten zur Verfügung stellen könnte.

Stück für Stück trägt Vic die Informationen zusammen, die man ihr meist nur widerwillig gibt oder bei deren Beschaffung ihr Steine in den Weg gelegt werden, da offensichtlich jemand verhindern will, dass die Gesuchten aufgestöbert werden und somit Dinge an die Öffentlichkeit gelangen, die für einige Beteiligte äußerst peinlich sind, denn es besteht plötzlich der Verdacht eines Patentdiebstahls, der sich vor rund siebzig Jahren zugetragen haben soll. Falls es Beweise gibt, die das bestätigen können, würde ein gewaltiger Skandal die Hightech-Branche erschüttern.


Die Handlung von „Kritischer Masse“, ein Titel der auf die Atomforschung anspielt und dem Leser automatisch Namen wie Otto Hahn und Lise Meitner in den Kopf zaubert - man möchte meinen, dass die beiden als sehr weit gefasste Vorlage für das Schicksal von Martina Saginor, Judys Großmutter, und dem Vater ihrer unehelichen Tochter Käthe dienten -, erstreckt sich über einen langen Zeitraum von etwa hundert Jahren. Natürlich wird die mit einander verbundene Geschichte der Herschels und Saginors aus Wien nicht chronologisch bis in die Gegenwartshandlung aufgearbeitet. Stattdessen wechselt die Autorin an geeigneter Stelle Ort, Zeit und Protagonisten, um dem Gesamtbild ein weiteres Puzzleteil hinzuzufügen.

Der Bogen spannt sich von der Kaiserzeit über den Ersten und Zweiten Weltkrieg und die Jahre des Kalten Kriegs bis in die Gegenwart (2010). Die Geschehnisse in der Vergangenheit lesen sich fast wie eine Familienchronik, die beschreibt, mit welchen Schwierigkeiten ambitionierte Frauen zu kämpfen hatten, um an höhere Bildung zu gelangen, welche Opfer sie erbringen mussten, um in der Forschung arbeiten zu dürfen, und wie sie oft um die Früchte ihres Erfolgs betrogen wurden, da andere, meist männliche Kollegen, diese Erkenntnisse für sich reklamierten.

Auch die Kriegs-Gräuel werden thematisiert und an die unzähligen Opfer erinnert. Selbst jene, die dem Holocaust entkommen konnten, trugen tiefe Wunden davon und fanden nicht immer ihr Glück im Exil. Außerdem legte sich der Schrecken der Atombombe wie ein dunkler Schleier über die Nachkriegszeit, etwas, was ihre Erfinder in den meisten Fällen nicht gewollt hatten, da sie die Kernkraft für eine friedliche Nutzung erforscht hatten.

Die Ausläufer all dieser Ereignisse reichen bis ins Jetzt und beeinflussen das Leben der Nachkommen der Herschels und Saginors. Da sich Vic nach ersten Warnungen nicht zurückziehen will, treten die Gegenspieler, die das Aufdecken der Wahrheit um jeden Preis verhindern wollen, immer skrupelloser auf. Es gibt Tote, und auch sie selbst gerät in große Gefahr.

Sara Paretzky bevölkert die verschiedenen Locations und Zeiten mit interessanten und für das jeweilige Milieu charakteristischen Akteuren. Der Plot ist äußerst komplex und voller Details, von denen einige durchaus nebensächlich zu nennen sind und für Längen sorgen, andererseits aber auch dem Leser erlauben, das Bisherige zu verarbeiten und Mutmaßungen anzustellen. Für keinen Augenblick verliert die Autorin den Überblick und verknüpft bis zum Schluss sämtliche Handlungsfäden für ein glaubwürdiges Finale.

„Kritische Masse“ ist ein umfangreicher, vielschichtiger Krimi, dessen Thema und Gestaltung über die gängige Suche nach Opfern und Tätern inklusive Aufklärung des Falls weit hinausgeht. Die Lektüre ist spannend genug, dass man das Buch nur ungern vor der letzten Seite aus der Hand legt.