Doris Gercke: Frisches Blut - Deutsche Geschichten (Buch)

Doris Gercke
Frisches Blut - Deutsche Geschichten
Argument, 2019, Hardcover, 204 Seiten, 15,00 EUR, ISBN 978-3-86754-235-7 (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Irene Salzmann

Doris Gercke, Jahrgang 1937, flüchtete im Alter von 12 Jahren aus ihrem Geburtsort Greifswald nach Hamburg. Nach ihrer Ausbildung zur Verwaltungsbeamtin heiratete sie jung und gab ihre Stelle auf, um die beiden gemeinsamen Kinder aufzuziehen. Danach schlug sie den zweiten Bildungsweg ein und studierte Rechtswissenschaften. Statt als Juristin zu arbeiten, machte sie Karriere als Schriftstellerin und wurde durch die Verfilmung der Kriminalfälle ihrer Figur Bella Block bekannt. Außer Krimis verfasst die Autorin Kinder- und Jugendbücher sowie Lyrik-Bände.

„Frisches Blut“ ist eine Kurzgeschichtensammlung. Bei den Charakteren handelt es sich weitgehend um deutsche Protagonisten, die überwiegend im norddeutschen Raum agieren. Die meisten der 15 Storys möchte man in erster Linie unter dem Begriff ‚Drama‘ verorten, da sich die Krimi-Elemente wie zufällig einschleichen und oft aus einer spontanen Idee oder Gelegenheit heraus geboren sind.


Die Obdachlose treibt sich oft am „Hafenrand“ herum, da sie einen Mann kennt, dessen Schiff dort vor Anker liegt und der ihr für Sex ein paar Schreine zusteckt. Weil er auf seine Weise immer gut zu ihr war, verabschiedet sie sich von ihm, denn ihr Plan sieht vor, sich ein warmes Winterquartier zu beschaffen.
„Der Richter von Unna“ ist der Routine seines Lebens überdrüssig, so dass in ihm der Wunsch reift auszubrechen. Den Anlass, tatsächlich alles hinter sich zu lassen, liefert ihm die flüchtige Begegnung mit einer Angeklagten.
„Wohlers Allee“ ist ein Ort, den die Erzählerin mit ihrem Abstieg verbindet, den sie selbst herbeiführte aufgrund einer zu begleichenden Rechnung.
Das Ehepaar befindet sich nach dem Verlust beider Arbeitsplätze in finanziellen Nöten. Als die Frau bei einem verunfallten Wagen hält und die Insassen tot vorfindet, nimmt sie einen Koffer voller Geld an sich. Dieses ist „Der Rest von etwas“, denn die anderen Dinge wirft sie fort. Ein dritter Mann hat jedoch überlebt und will den Koffer zurück.
Ausgebeutete Kinder finden kurzfristig „Eine Lobby“, doch die Verantwortlichen wissen, dass sie das Elend nicht beenden können und verhalten sich letztendlich nur medienwirksam.
„Die Huren von Hagen“ sind in Aufruhr, weil nach dem Tod eines einflussreichen Gangsters ein Pärchen das Gewerbe übernehmen will und die angestammten Prostituierten die Konkurrenz fürchten müssen.
Für zwei Personen sind „Die sanften Hügel der Türkei“ das Ziel, während sonst für alle diese das Sprungbrett ins Paradies Europa bedeuten.
Eine Gruppe dubioser Männer mietet sich in einer Gaststätte ein. Sie reden von einem der ihren als „Frisches Blut“, und das findet der Wirt - in der Titelgeschichte - in einem der Zimmer, nicht aber jenen Gast.
Man möchte meinen, die Autorin habe für „Eine triviale Geschichte“ eigene Erlebnisse verarbeitet, wobei sie womöglich in den beiden befreundeten Frauen Momente ihres eigenen Lebens verarbeitet und verfremdet hat.
„Das Meer ist blau“ um die idyllische Insel, wo die Frau und das Kind leben, denen der Mann Alimente zahlt. Das soll enden, doch er wird auf völlig unerwartete Weise übertölpelt.
In „Bass goes Föhr“ ahnt ein Gast, dass etwas Seltsames vorgefallen ist zwischen der Wirtin und einem Musiker, der anderentags tot ist.
„Zwei Fremde in Schaffhausen“ begegnen sich zufällig. Eigentlich wollen beide ihr Leben hinter sich lassen, was in einem Fall auf morbide Weise ‚gelingt‘, im anderen hingegen nicht.
„Der Bulle von Gelsenkirchen“ will noch nach der Pensionierung einen brutalen Mord unbedingt aufklären. Seine Passion kostete ihn bereits die Ehefrau und nimmt ihm bald noch mehr.
Vergangenheit und Gegenwart verwischen sich und stehen „Vor Gericht“.
Ein Pärchen lässt sich in einem „Winterquartier“ nieder, einem Haus, das ebenso wie die umliegenden Gebäude gerade unbewohnt ist. Aber irgendetwas stimmt nicht, und einen Tag, bevor sie verschwinden wollen, kommt die Frau von ihrem Spaziergang nicht zurück.


Die Autorin siedelt ihre Charaktere in vertrauten und vorstellbaren Milieus an: die gut situierten, erfolgreichen Bürger, die ihre Möglichkeiten mehr als nur ausreizen; Mittelständler, die in eine Krise geraten oder nach einem Strohhalm greifen; Außenseiter, die ihre Lage verbessern wollen oder weiter abrutschen. Manche von ihnen sind bloß Beobachter, einige werden wider Willen involviert, andere verfolgen einen Plan.

Dementsprechend wechseln mit jeder Geschichte die Perspektiven und der Erzähl-Stil. Die Hauptfiguren sind Frauen und Männer, die eher selten einen Namen haben, so dass angedeutet wird, dass jeder in eine ähnliche Situation geraten könnte. Ihre Geschichten werden von einem neutralen Beobachter geschildert, aus der Perspektive eines handelnden Protagonisten oder Zeugen wiedergegeben oder so vorgetragen, dass der Leser direkt angesprochen wird.

In fast allen Geschichten gibt es Tote, der Tod wird angedeutet oder/und ein anderes Verbrechen begangen. Im Vordergrund stehen jedoch die menschlichen Dramen, die der Auslöser für die Untaten sind. Sie erscheinen wie die unabwendbare Konsequenz der jeweiligen Lebensgeschichten und werden nüchtern, ohne die üblichen Spannungsszenarien als Schlusspunkt gesetzt. Der Leser erlebt infolgedessen kein packendes whodunit, sondern begleitet Beobachter, Opfer und Täter und erhält Einblicke in die Abgründe hinter den Fassaden dieser Personen und dem Fatalismus, mit dem bestimmte Entwicklungen für die Betroffenen einhergehen.

Die Storys wirken im ersten Moment unspektakulär, aber sie entfalten still und leise ihre Wirkung, weil sie realistisch sind und man über sie nachdenkt.

Eine interessante Krimi-Kurzgeschichtensammlung, die sich von der Masse abhebt.