Carlos Ruiz Zafón: Der Mitternachtspalast (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Mittwoch, 29. Juli 2015 12:26
Carlos Ruiz Zafón
Der Mitternachtspalast
(El Palacio de la medianoche)
Aus dem Spanischen übersetzt von Lisa Grüneisen
Fischer, 2014, Taschenbuch, 332 Seiten, 9,99 EUR, ISBN 978-3-596-03138-2 (auch als eBook erhältlich)
Von Carsten Kuhr
Kalkutta im Jahr 1916. Ein junger Mann flüchtet mit gerade geborenen Zwillingen seiner alten Liebe vor einem wahnsinnigen Verfolger, der schon deren Mann und einen ganzen Zug voller Waisenkinder grausam ermordet hat. Kurz bevor er seinen Häschern zum Opfer fällt, gelingt es ihm, die Babys zu ihrer Großmutter zu bringen. Diese weiß, dass der Verfolger keine Ruhe geben wird. So versteckt sie den Jungen in einem Waisenhaus, in dem er unerkannt und ohne dass irgendjemand ahnt wer er ist aufwächst, während sie selbst sich mit dem Mädchen auf eine jahrelange Flucht begibt.
Sechzehn Jahre sind mittlerweile vergangen und wir begegnen dem vermeintlichen Waisenjungen Ben wieder. Zusammen mit anderen Zöglingen des Waisenhauses hat er sich in einem Geheimbund, der sogenannten Chowbar Society, zusammengefunden. In einem verlassenen Palast, dem Mitternachtspalast, treffen sie sich, erzählen sich Gruselgeschichten und pflegen ihre Freundschaft. In ein paar Tagen, wenn sie das 16. Lebensjahr vollendet haben, müssen sie das Waisenhaus verlassen – ein Tag, der alles verändern wird.
Als eine alte Frau mit einem Mädchen den Leiter des Waisenhauses besucht, ahnt er noch nicht, dass er seine Großmutter und Schwester vor sich hat. Sie sind gekommen, um den Leiter eindringlich vor Jawahal, den Mann, der geschworen hat, die Kinder seines Erzfeindes umzubringen, zu warnen. Während die alte Frau mit dem Leiter spricht, führt Ben Sheere in die Society ein. Als Eintrittspreis ist immer eine Geschichte zu erzählen – und die junge Dame hat eine wahre Gruselgeschichte anzubieten.
Sie berichtet von ihrem Vater, der an Bord des mit Waisen besetzten Zuges in den von ihm geplanten Bahnhof in Kalkutta einfährt – an Bord eines brennenden Zuges, der alle Insassen einem grausamen Tod aussetzt. Dass der damals schuldige Meuchelmörder, ein wahrer Feuerdämon, nun hinter den beiden Zwillingen her ist, wie die Society gegen die Bedrohung zusammensteht und wie die letzten Tage der Kindheit für die Jugendlichen vorbeigehen, das erzählt uns Zafón in einem seiner ersten Romane.
Carlos Ruiz Zafón hat sich mit Bestsellern wie „Der Schatten des Windes“ und „Das Spiel des Engels“ in die Herzen seiner Leser geschrieben. Im vorliegenden frühen Werk, das sich vornehmlich an ein junges Publikum wendet, zeigt er schon die für ihn ganz typischen Stärken. Seine einfühlsame Charakterzeichnung, die Tiefe seiner Texte mit ihrer zugrundeliegenden Aussage und ein sehr bewusst aber unauffällig eingesetzter Stil, wissen junge wie alte Leser zu verzücken. Erstaunlich war für mich zu Beginn zunächst der von Zafón gewählte Handlungsort. Mit der indischen Metropole Anfang des letzten Jahrhunderts geht er andere, neue Wege als in seinen bekanntesten Titeln. Dabei gelingt es ihm mit leichter Hand und meist nur in Andeutungen, das Leben und die Zustände in einer der ärmsten indischen Metropolen zu beschreiben. Hier besticht insbesondere die Darstellung der jungen Protagonisten. Das sind Figuren, die uns schnell ans Herz wachsen, die ganz unterschiedlich angelegt sind, die alle in diesen Tagen reifen und ihre Kindheit hinter sich lassen.
So ist dies auch, neben der Abenteuergeschichte, eine Dokumentation des Abschieds von der Kindheit, des Erwachsenwerdens, die in uns allen Erinnerungen an die eigene Historie auslösen.
Geschickt streut der Autor immer wieder Geschichten in der Geschichte ein, fügt übernatürliche Motive hinzu und schockiert immer von Neuem durch Gewaltszenen. Dabei ist festzustellen, dass Zafón vorliegend noch nicht ganz das Niveau späterer Romane erreicht. Während er in seinen gefeierten Erwachsenenromanen über Andeutungen und mit stilistischen Finessen besticht, schockt er vorliegend. Insofern bin auch bezüglich der Altersempfehlung ab 12 Jahren ein wenig zögerlich, würde das Buch eher einem Leserkreis ab 14 Jahren anbieten wollen.
Fazit: Auch in diesem Buch zeigt der große spanische Meister des geschriebenen Wortes schon spätere Stärken, erzählt eine wundersam eindringliche, melancholische dann wieder mutige Geschichte vom Erwachsenwerden.