Zwengel, Andreas: Die Welt am Abgrund (Buch)

Andreas Zwengel
Die Welt am Abgrund
Titelillustration von Wolfgang Stohr
Persimplex, 2009, Hardcover, 244 Seiten, EUR 19,90, ISBN 978-3-940528-81-0

Von Carsten Kuhr

China um 1900. Immer größere Teile des chinesischen Kaiserreichs werden von den Europäischen Kolonialmächten besetzt. Es gilt, die Reichtümer Asiens für die mächtigen Nationen zu erschließen, das alt-ehrwürdige, technisch aber hoffnungslos veraltete Reich, auszubeuten.
Auch das Deutsche Reich beteiligt sich an diesen Plänen. In Tsingtau sorgen deutsche Ingenieure dafür, dass Straßen und prächtige Häuser gebaut werden, eine Eisenbahn ist in Planung.
Anton Slabon, ein erfolgloser Vermessungsingenieur aus Berlin, und seine Familie zieht es ins ferne China. Hier, weitab vom Reich, in dem nur derjenige Karriere machen kann, der einen entsprechenden Stammbaum vorweist, hofft er mit seinem Können und Fleiß punkten zu können.
Während er sich die Karriereleiter hinaufarbeitet, kümmert sich eine Zugehfrau um seine kleine Tochter. Kurz bevor der Boxeraufstand den Großmachtplänen der Europäer einen Schuss vor den Bug setzt, wird die Familie Slabons ermordet, das übersinnlich begabte Kind entführt.
Die Spur führt ins Deutsche Reich. Hier, in Frankfurt am Main, wird das Kind von einer unbekannten Gruppe skrupelloser Männer untersucht.

Währenddessen rekrutiert Geheimrat von Holstein vom Auswärtigen Amt mit Walter Seyferd, einem frustrierten Ex-Polizisten, um in Berlin den überall in Europa unter der Erde, in Bergwerksstollen wie U-Bahnschächten, auftauchenden mysteriösen Zeichen nachzugehen. Der kauzige Ermittler Seyferd und der ihm zur Seite gestellte Professor Piscator kommen einem alten, wohlgehüteten Geheimnis auf die Spur. In den Stollen unter der Reichshauptstadt stoßen sie auf einen Albino, der fließend Burgundisch spricht, eine Sprache, die seit Jahrhunderten ausgestorben ist. Das Zeichen an den Wänden entpuppt sich als Karte, ein weiterer Hinweis auf alte burgundische Wurzeln. Doch wie hängt dies alles zusammen, wie passen das übersinnliche begabte Kind und eine Geheimsekte ins Bild, und was nur verbirgt sich tief in der ewigen Nacht unter den europäischen Reichen …?

Letztes Jahr schrieb das Onlineportal geisterspiegel.de in Zusammenarbeit mit dem Persimplex Verlag einen Romanwettbewerb aus. Vorliegendes Werk errang damals den Siegerlorbeer und wurde mit einer hochwertigen Hardcover-Ausgabe geadelt.

Kommen wir zunächst zum Buch selbst. Der Druck ist sauber, das Schriftbild gefällig, die Bindung sorgfältig, so dass der Leser hier einen adäquate Gegenwert für sein Salär erhält.

Inhaltlich hat mich das Buch überrascht. Der noch unbekannte Autor erzählt stilistische solide und inhaltlich packend eine herrlich überdrehte Steampunk-Story, die endlich einmal nicht im viktorianischen England angesiedelt ist, sondern sich heimischer Orte und Figuren bedient.

Ich habe es schon oft bemängelt, dass deutsche Autoren markante historische Aufhänger wie etwa die Hanse, den Deutschen Orden oder die Fugger ignorieren, und stattdessen immer wieder ihre Handlungen an die Themse verlegen.
Zwengel zeigt auf, dass auch unsere Gegend und Geschichte interessante Anknüpfungspunkte bietet. Einmal abgesehen von Kai Meyer und Michael Kirchschläger, der mit seinen »Grako«-Romanen bei Festa hier ein einsamer Rufer in dunklem Wald ist, wagt sich bislang kein phantastischer Autor an die Wilhelminische Ära heran. Dabei sind Geheimräte und kaiserliche Inspektoren, Kolonialismus und Bismarck’sche Intrigen doch durchaus faszinierend und würden Anknüpfungspunkte genug bieten.
Andreas Zwengel nutzt eben diese Aufhänger für seine Handlung. Geschickt lässt er hierbei sein Wissen um die damaligen Lebensumstände in die Handlung einfließen, zeigt uns das Bild eines ganz anderen Deutschlands, als wir es gemeinhin kennen. Zwar ordnet auch er Vieles seiner Handlung unter, doch die Faszination, die die Beschreibung des Lebens zur damaligen Zeit auf mich ausgeübt hat, ist nicht zu vernachlässigen.
In diese uns fremde und unbekannte Welt baut er dann seinen Plot um ein unterirdisches Reich und dessen Bewohner auf. Mit detektivischen Gespür eilen wir von Nord nach Süd, von Berlin über Frankfurt, München bis an den Bodensee.
Dabei fährt der Autor auf, was im Steampunk gut und geschätzt ist. So verfolgen mit unseren Ermittlern an Bord eines Luftschiffes aus Zeppelin’scher Fertigung einen Land-Wasserleviatan, dürfen Bill Cody und seine Wildwest- Show auftreten sehen und uns gemeinsam mit unserer Expedition auf Verne’schen Spuren ins Erdinnere begeben. Attentäter tauchen auf, der oberste Stock einen Luxushotels fliegt in die Luft – die Handlung verwöhnt den Leser mit unvorhersehbaren Wendungen und immer neuen Ideen.

Letzteres ist dann auch ein kleiner Kritikpunkt. Der Autor hat fast zu viel in seinen Roman hineingepackt. Die unterschiedlichsten Gruppierungen treten auf, deren Motivation lange unklar bleibt. Auch den eigentlichen Grund, warum sich die Familien ins Erdinnere zurückzogen und dort ihr Reich gründeten, bleibt ein wenig diffus.
Ansonsten hat Zwergel einen herrlichen Genremix vorgelegt, der neben seiner mehr als abwechslungsreichen Suche nach der Aufklärung der Rätsel mit markanten Figuren und geschichtlichen Orten punktet.