Wolfgang Jeschke: Dschiheads (Buch)

Wolfgang Jeschke
Dschiheads
Heyne, 2013, Taschenbuch, 368 Seiten. 7,99 EUR, ISBN 978-3-453-31491-7 (auch als eBook erhältlich)

Von Gunther Barnewald

Wolfgang Jeschke ist nicht nur jahrzehntelang einer der bedeutendsten Herausgeber einer Phantastik-Reihe in Deutschland gewesen (nämlich der Heyne Reihe), er ist zudem auch noch einer der profiliertesten und vor allem besten deutschen SF-Schriftsteller. Wenn also ein neues Werk von ihm erscheint, dann ist dies oft ein Grund zur Freude für Leser anspruchsvoller und trotzdem unterhaltsamer Science Fiction.

Dies bestätigt sich bei seinem neuesten Roman wieder vollauf, denn erneut gelingt es dem Autor, eine spannende Geschichte zu erzählen, ohne dabei allzu sehr in Klischees zu verfallen oder Belanglosigkeiten aneinanderzureihen.

Zum Inhalt: In der Zukunft, deutlich jenseits des 21. Jahrhunderts (eine genauere Zeitangabe lässt sich Jeschke nicht entlocken), ist es möglich, zu den Sternen zu reisen. Fremde Planeten wurden kolonisiert. So auch eine Welt, die man New Belfast genannt hat. Auf ihr hatten sich hauptsächlich religiöse Querköpfe angesiedelt, bis deren Konflikte untereinander dermaßen eskaliert waren, dass eine neue Ordnung eingerichtet werden musste. Extreme Religiosität wurde danach als eine Form von Geisteskrankheit betrachtet, der eine organische Ursache zugrunde lag: nämlich eine Hirnerkrankung mit Über- oder Fehlfunktion der Schläfenlappen. Dies wurde erkannt und die betroffenen Menschen mussten sich einer Zwangsbehandlung der Schläfenlappen unterziehen, was zur Folge hatte, dass deren Religiosität eingedämmt und dadurch deren intolerante Haltung abgebaut wurde.

Einige wenige Bewohner verweigerten diese Behandlung jedoch und beschlossen eine erneute Emigration. Man floh auf eine tropisch heiße Welt, die offiziell Hot Spot genannt worden war, von den neuen Siedlern jedoch Paradise genannt wird. Dort errichtete man eine neue, extrem religiöse Gesellschaft.

Eines Tages werden zwei Forscher und ihr genetisch veränderter Assistent (ein kybernetisch aufgerüsteter Hund namens Jonathan Swift) von New Belfast entsandt, die erforschen sollen, ob auf Hot Spot intelligentes einheimisches Leben existiert, da man dort große Felszeichnungen gefunden hat. Dort gibt es mittlerweile auch eine Militärbasis, die jedoch hauptsächlich von Soldaten betrieben wird, die man auf diesem Planeten rekrutiert hat, was gewisse Probleme mit sich bringt.
Der Kommandant der Station, der die Forscher eingeladen hatte, ist inzwischen auf dem Planeten verschollen, sein Stellvertreter steht den beiden Neuankömmlingen reserviert bis feindselig gegenüber, ist selbst scheinbar sehr religiös und ein verkniffener, freudloser Mann. Die beiden Forscher und ihr „Assistent“ lassen sich jedoch nicht entmutigen und versuchen, dem Geheimnis des Planeten auf die Spur zur kommen und geraten dabei in Lebensgefahr.

Zur gleichen Zeit wächst der junge Suk in einer religiös-intoleranten Diktatur auf dieser Welt heran. Der dortige Führer hat alle Macht eines Potentaten und nutzt diese weidlich aus. Suk und sein taubstummer Freund Anzo ecken hier immer wieder an, manchmal einfach nur durch Anzos Andersartigkeit oder beider fehlendem Enthusiasmus, dem religiösen Führer zu folgen. Als Anzo und seine Mutter nach einem Zwischenfall mit dem Potentaten spurlos verschwinden, weiß auch Suk, dass hier seine Zeit abgelaufen ist...

„Dschiheads“ glänzt durch wunderbare Beschreibungen der exotischen Tier- und Pflanzenwelt auf Hot Spot/Paradise ebenso, wie durch ausgefeilte Charaktere (allerdings leider nur bezüglich einiger Figuren) und die packende Handlung.

Natürlich begegnen sich Suk und die Wissenschaftler. Und auch wenn nicht alle Mysterien der fremden Welt in diesem Roman enthüllt werden können, dem Autor gelingt ein frappierender Blick in eine fremde, exotische Welt. Zudem greift Jeschke ein sehr aktuelles Thema auf, beschreibt er doch den schwierigen Umgang mit religiös-intoleranten Fanatikern jeder Couleur. In der vorliegenden Geschichte gab es in der Zukunft eine Art neue Religion, die mit aggressiven Methoden versucht hatte, Menschen für sich anzuwerben und radikale Anschläge auf alle Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften verüben ließ. Diese neue Gruppe wurde im 21. Jahrhundert gegründet und radikalisierte sich im 22. Jahrhundert (daher die Zeitangaben im Buch). Deren verquere Mitglieder besiedelten dereinst New Belfast, später dann deren radikalste Apologeten Hot Spot/Paradise. In deren Glauben finden sich Elemente aus allen Weltreligionen wieder und irgendwann werden diese Leute nur noch abfällig „Dschiheads“ genannt, beginnen dann (wie so oft in der Historie), diese Beschimpfung für sich zu übernehmen und sich damit zu identifizieren, daher auch der Titel des Buchs.

Leider fehlt es bei diesem schwierigen Thema Jeschke manchmal noch etwas an Differenziertheit. So erweist sich eine einfache Hirnerkrankung als Auslöser verstärkter Religiosität bei den Menschen, ein hirnorganischer Eingriff heilt die dadurch ausgelöste Intoleranz deshalb ganz schnell. Wenn es doch in der Realität nur so einfach wäre! Dereinst vermuteten Forscher, dass Männer mit zusätzlichem Geschlechtschromosom per se aggressiver und delinquenter seien, denn tatsächlich fand man unter verurteilten Straftätern (vor allem unter Serientätern) mehrere, die ein oder mehrere Y-Chromosomen zu viel aufwiesen. Eine genauere Untersuchung ergab jedoch, dass nicht alle Schwerverbrecher diese Auffälligkeit aufwiesen und zudem, dass auch Menschen mit dieser Auffälligkeit existieren, die niemals zu Delinquenten geworden waren. Deshalb verwarf man diese Theorie wieder, erklärte sie doch nicht alleine alle Facetten menschlichen Denkens und Handelns, auch wenn bei Strafgefangenen (vor allem denen mit Aggressionsdelikten) Männer mit überzähligen Y-Chromosomen statistisch signifikant überrepräsentiert sind.

Allerdings merkt auch der Autor selbst kritisch an (und relativiert damit zum Glück selbst diese Position), dass der Vater der Professorin nach einem solchen Eingriff nur noch ein schwacher Schatten seines früheren Selbst ist, und seine Lebendigkeit und sein Elan für immer verschwunden sind. Den Bewohnern von New Belfast erscheint dieser hirnorganische Eingriff jedoch als perfekte Lösung und er sorgt für die erhofften Resultate, was natürlich in der Realität äußerst zweifelhaft erscheinen darf. (Intoleranz als Ausfluss einer hirnorganischen Abnormität? Wenn das Leben nur so eindimensional wäre, dann könnte man viele Dinge durch kleinste Veränderungen schnell in den Griff bekommen).

Abgesehen von dieser Schwäche gelingt Jeschke jedoch ein wunderbarer Abenteuerroman, der an die großen Schriftsteller des SF-Genres erinnert. Ähnlich wie bei Jack Vance, einem begnadeten Soziologen und Meister schrulliger Sekten und Sektierer, in dessen Büchern haufenweise intolerante Religionsgründer vorkommen, die auf fremden Planeten eigene Kolonien gegründet haben, um ihren Spleen bis zum Exzess ausleben zu können, oder auch bei Michael G. Coney, in dessen Romanen „Hello Summer, Good Bye“ (dt. u. a. als „Der Sommer geht“) und „Syzygy“ (dt. „Flut“) ebenfalls fremde Welten mitreißend porträtiert werden, sind es fast immer junge Leute, die aus dem starren moralischen Käfig der Älteren auszubrechen versuchen, wenn ihnen dieser zu eng wird. Dies ist auch eines der Hauptthemen einiger toller Romane von Jack Vance wie zum Beispiel „Emphyrio“, dt. unter dem gleichen Titel oder „The Blue World“, dt. als u. a. „Der azurne Planet“.

Fremde Besucher (wie in diesem Fall die beiden Wissenschaftler) sind der andere Gegenpol zu den in Dogmen erstarrten und von Machtmissbrauch gezeichneten Systemen (bei Vance vor allem in den beiden Romanen um den sogenannten „Big Planet“, auf dem sich unzählige Sekten angesiedelt haben und ihren Ritualen frönen, also „Showboatworld“, dt. als „Showbootwelt“ und „Big Planet“, dt. als „Planet der Ausgestoßenen“).

Da wo Vance schräge Stutzertypen der Lächerlichkeit preisgibt und deren Machtmissbrauch geißelt, leiden die Figuren bei Jeschke jedoch etwas unter ihrer Eindimensionalität. So ist der örtliche Potentat natürlich die größte vorstellbare Drecksau (vergewaltigt Frauen, lässt sich von einem Jungen immer wieder durch Oralverkehr befriedigen etc.) und seine Helfershelfer perverse, gewaltbereite, homosexuelle Analverkehrer.

Leider wird auch die Figur des jungen Suk nicht so recht lebendig (im Gegensatz zu den ausdrucksstark entworfenen Charakteren der beiden Wissenschaftler). Erst gegen Ende erfährt man von dessen fehlender Bildung (klar, denn rigide Systeme profitieren von Unwissen essentiell, es ist geradezu deren Fundament und im Gegensatz zu Gehirnerkrankungen eine viel zentralere Brutstätte für menschliches Elend, und gerade religiös orthodoxe Diktaturen, die Intoleranz predigen, sind völlig darauf angewiesen, ihre Anhänger in Unwissen zu halten, denn sonst könnten Zweifel aufkommen an deren gottgewollter Machtausübung), was sich aber scheinbar nicht negativ auf die Weltsicht des Jungen auswirkt. Ein bisschen Aberglaube oder Glaube an das Übernatürliche sollten bei dem Jungen schon da sein, aber Suk erscheint hierfür einfach zu rational und abgeklärt, was unnatürlich anmutet. Er könnte aus unserer westlichen Welt stammen, was dann doch etwas unrealistisch wirkt.

Trotz dieser kleineren Schwächen ist „Dschiheads“ aber insgesamt ein wunderbar zu lesendes, spannendes und dabei doch niveauvolles Buch, mit überzeugender Atmosphäre und teilweise gut entwickelten Charakteren. Abenteuer-SF mit Anspruch auf der Höhe der Zeit.