Pelikan Protokoll 2 (Comic)

Pelikan Protokoll 2
(Le Protocole Pélican)
Text und Storyboard: Richard Marazano
Zeichnungen: Jean-Michel Ponzio
Übersetzung Tanja Krämling
Splitter, 2013, Hardcover, 48 Seiten, 13,80 EUR, ISBN 978-3-86869-563-2

Von Frank Drehmel

Während das Leben der in der Heimat Zurückgebliebenen mittlerweile in mehr oder weniger normalen Bahnen verläuft – eine Ausnahme stellt Isabells jüngerer Bruder dar, der ohne den Rückhalt seiner Schwester kurz davor steht, ins kriminelle Milieu abzurutschen –, nehmen die perfiden Experimente an den Entführten ihren Fortgang.

Durch Medikation mit psychoaktiven Drogen, aber auch mit Placebos, durch Gespräche und psychoanalytische Sitzungen, durch Entzug von Vergünstigungen und weitere Sanktionen, durch Konformitätsexperimente zum Beispiel nach Solomon Asch, versuchen die sogenannten Berater, jene Einheit in der Gruppe der zwölf zu isolieren, die den nach wie vor unbekannten Anforderungen der Hintermänner der Versuche genügt. Insbesondere die aggressive und renitente Isabell – Einheit 4 – steht wegen ihrer wiederholten Ausbruchsversuche sowie ihres nonkonformistischen Verhaltens im Fokus der Wissenschaftler; aber auch einige andere Einheiten weisen vielversprechende Verhaltensmuster auf, während das Gros allerdings nicht die gewünschten Verhaltensweisen an den Tag legt.

Als eines Tages die Einheiten in einer augenscheinlich verlassenen Station erwachen, ist endlich der Moment gekommen, um gemeinsam zu fliehen, auch wenn einzelne Stimmen laut werden, dass diese Situation Teil eines weiteren Experimentes ist. Dennoch haben die Gefangenen keine Wahl; allerdings ist der Komplex hermetisch gegen die Außenwelt abgeschlossen, sodass es gemeinsamer Anstrengungen bedarf, um Erfolg zu haben.

So unterschiedlich die Probanden, so divergierend das Vorgehen und die Argumentation der einzelnen Wissenschaftler. In den Auseinandersetzungen zeigt sich schnell, dass das Pelikan-Protokoll das einzige Moment ist, das die drei Gruppen der Station – Einheiten, Berater und Kameraden (Wächter) – zusammenhält, ja zusammenzwingt, wobei (wie sich alsbald herausstellt) die Gruppenzugehörigkeit einer Person nicht in Stein gemeißelt ist.

Marazanos ungewöhnliche Geschichte geht in ihre zweite Phase: nach wie vor zeichnet sich die Story durch einen weitgehenden Verzicht auf unmittelbare Gewalt und mainstreamhafte Action aus. Sie lebt in ihrer ganzen Intensität durch die Interaktion der Figuren in ihren unterschiedlichen Rollen, den analytischen, reflektierenden Dialogen, beiläufig eingestreuten sozialpsychologischen Erkenntnissen, der klaustrophobischen Umgebung sowie schlussendlich den Rätseln, den Geheimnissen, die die Menschen verbinden und deren Lösung der Leser auch in diesem zweiten Band keinen Deut näher kommt.

Bedauerlicherweise wird der Spannungsbogen durch einige Zwischenspiele unterbrochen, in denen der Werdegang von Isabells Bruder im Mittelpunkt steht; diese Szenen wirken nicht nur überflüssig, sondern sind auch – anders als die Haupthandlung – deutlich klischeebeladen, sodass sie lediglich dann tolerierbar sind, wenn sie später noch an Bedeutung gewinnen; zum jetzigen Stand der Story nerven sie lediglich. Eine weitere kleine Schwäche ist die generelle Fokussierung auf Isabell, die zweifelsohne der Dreh- und Angelpunkt der Story ist, die aber a) nicht sonderlich sympathisch gezeichnet wird und in deren Schatten b) die übrigen Protagonisten zum Teil vollkommen verschwinden. Zu guter Letzt ist der Ausbruchsversuch der Probanden nicht stimmig, da sie eine wichtige Handlungsoption außer Acht lassen: das sofortige Zerstören sämtlicher interner Überwachungssysteme.

Am Artwork hingegen gibt es nicht das Geringste auszusetzen: in seinen detailreichen Bildern fängt Ponzio nicht nur die Enge der beklemmend düsteren Umgebung ein, sondern verleiht den Protagonisten durch seinen fast fotorealistichen Ansatz ein hohes Maß an Emotionalität in Mimik und Körperhaltung.

Fazit: Trotz kleinere Schwächen im Detail eine hochspannende, intensive und intellektuell unterfütterte Geschichte, die dem Leser dazu auffordert, die eigene Konformität im alltäglichen Leben zu reflektieren. In Verbindung mit dem grandiosen Artwork ein echtes Highlight.