Simmons, Dan: Drood (Buch)

Dan Simmons
Drood
(Drood)
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Friedrich Mader
Heyne, 2009, Hardcover, 976 Seiten, 24,95 EUR, ISBN 978-3-453- 26598-1

Von Carsten Kuhr

Ein paar Jahre vor seinem Tod widerfährt Charles Dickens ein einschneidendes Ereignis. Als er mit seiner Mätresse und deren Mutter aus Frankreich kommend mit dem Zug in Richtung London unterwegs ist, bricht eine Zugbrücke unter dem fahrenden Stahlungetüm zusammen Die Wagen werden aus den Gleisen geschleudert und prallen in die Tiefe. Unverletzt kann der Dichterfürst sich retten und den Verletzten und Sterbenden zu Hilfe eilen. Auch andere Mitpassagiere leisten erste Hilfe. Unter ihnen ein seltsam missgestalteter Mann, ein Mann, der sich Dickens unter dem Namen Drood vorstellt. Auffällig, dass immer wenn dieser einem Verletzten zu Hilfe eilt, dieser die Augen für immer schließt. Hat der Unbekannte seine Mitreisenden etwa umgebracht?

Monate später macht Dickens sich in Begleitung seines Freundes, des Autors Wilkie Collins auf, das Rätsel um Drood zu lösen. Ihre Suche nach Drood führt die beiden so ungleichen Freunde tief unter die englische Hauptstadt, durch Tunnel und Katakomben, bis hinein in die Unterstadt, in der Drood seinen Tempel des mesmeritischen Wissens in der Nachfolge der altägyptischen Priester errichtet hat.
Während Dickens sich von den Erkenntnissen, die der Priester ihm offeriert, fasziniert zeigt, wird Collins von einem Detektiv erpresst, diesem nähere Informationen über Drood zukommen zu lassen. Anscheinend soll dieser in den letzten Jahren weit über dreihundert Menschen zum Teil grausam ermordet haben. Wer aber verbirgt sich hinter dem Namen Drood, was ist Wahrheit, was Fiktion, was dem Opiumrausch zuzuschreiben?

Hinter diesem vordergründigen Thema hat der Autor Dan Simmons, der sich Wilkie Collins als Erzähler bedient, aber eine ganz andere, mindestens genauso interessante Geschichte versteckt. Eine weiter Story – ach wo, eine ganze Anzahl unauffällig eingeschobener Geschichten erwartet den Leser. Es geht um nichts weniger als den emotional aufrüttelnden Bericht einer Hass-Liebe.

Collins, selbst recht erfolgreicher Autor der Viktorianischen Ära – sein »A Terribe Strange Bed (»Ein schauerlich fremdes Bett«) und »The Woman in White« (»Die Frau in Weiß«) werden ebenso wie »The Moonstone« (»Der Monddiamant«) immer wieder aufgelegt, ist Dickens, dessen Genialität er ebenso bewundert wie beneidet, als treuer Freund verbunden. Er selbst, ein Laudanum-Abhängiger Genießer, der gutem und reichhaltigem Essen ebenso zugetan is, wie den sinnlichen Freuden der holden Weiblichkeit, ahnt sehr genau, dass er selbst im strengen Auge der Zeit vergessen zu werden droht, während sein Vorbild, Freund und Konkurrent seinen Weltruhm auch zukünftig zementieren wird. Bewunderung und Neid, beides in übersteigerter Form ausgeprägt, konkurrieren miteinander, dazu gesellt sich die Ablehnung seines Bruders als Ehemann von Dickens Tochter. Dass hier ein wahres Gefühlschaos herrscht, ist mehr als nachvollziehbar.

Erstaunlich bei all den Geliebten und Mätressen, mit denen beide Schriftsteller zu Gange sind, dass im ganzen Buch nicht eine Sex-Szene auftaucht. Die körperliche Liebe ist etwas, das man genießt wie eine gute Zigarre oder ein Glas alten Ports, über das man aber nicht spricht.
Hier, und nicht nur hier, merkt man dem Text an, dass Simmons sehr sorgfältig recherchiert hat, und seinen Roman zeit authentisch ausgestaltet hat.
So wird die Laudanum-Abhängigkeit Collins lediglich als Fakt hingestellt und nicht hinterfragt oder gar angeprangert. Auch die damals übliche Praxis, sich in Opium-Höhlen mittels Genuss der Wasserpfeife in angenehmere Umstände zu träumen wird ohne den sonst üblichen erhobenen Zeigefinger geschildert, mehr nicht. Das tut gut, verleiht dem Werk ein gerütteltes Maß an innerer Überzeugungskraft und Authentizität.

Im Verlauf des Buches wandelt sich der Grundtenor immer wieder. So ist dies ebenso eine Biographie der letzten fünf Lebensjahre Dickens, wie eine Beschreibung Wilkie Collins, über dessen Schöpfungsakt zu »The Moonpool«, dann wieder doch eher eine Detektivgeschichte über die Suche nach einem Gangsterboss, vielleicht gar die Untersuchung, ob nicht Dickens selbst als Vormundsschwindler sich unrechtmäßig bereichert und sein Mündel getötet hat? All dies beinhaltet dieses Buch, dazu das bestechend real und lebendig wirkende Portrait einer uns fremden, längst vergangenen Epoche.
Immer wieder tauchen zeitgeschichtliche Personen auf, dazu gesellen sich Romanfiguren oder ihre realen Vorbilder, nimmt der Text Bezug auf die Werke von Collins und Dickens.

Dabei ist »Drood« beileibe keine einfache Lektüre. Ein »Runterlesen« des Textes ist angesichts der Komplexität, der vielen Details und auch der innewohnenden Dramatik der Ereignisse, seien sie nun real oder dem Drogenrausch zuzuschreiben – die Grenze ist hier fließend – nicht möglich.
Immer wieder musste ich eine Pause einlegen, über das Gelesene reflektieren, nur um dann wieder zum Buch zu greifen, um zu erfahren, wie sich die Ereignisse fortentwickeln würden.

Dass Simmons sich hinter Collins versteckt, dass er durch dessen voreingenommene Augen uns einen Blick quasi aus dem innersten Zirkel der Dickens-Anhänger und -Freunde gewährt, erweist sich als Glücksgriff. Man fühlt sich unwillkürlich an die Seite des großen Geschichtenerfinders gezogen, erkennt dessen Genialität ebenso, wie seine mannigfaltigen Fehler und sein übersteigertes Ego.

Mit vorliegendem Roman ist Simmons, der in seiner bemerkenswerten Karriere nach seinen Anfängen im Bereich der Science Fiction über Horror, Krimis zum Historischen Roman überzeugende Beispiele seiner Kunst vorgelegt hat, ein wirklich großer Wurf gelungen. Das Gebotene bewegt sich weit außerhalb jeglicher Genre-Grenzen, fasziniert, ohne plump mit plakativen Versatzstücken sonst gängiger Themata zu punkten, und ist dazu noch wirklich vorzüglich übersetzt.

Wie gesagt, keine literarische Fast-Food, sondern ein Werk, das zum Mitdenken, zum Nachdenken und zum Weiterdenken anregt, das ergreift und fordert – gute Literatur eben.