Vladimir Sorokin: Der Zuckerkreml (Buch)
- Details
- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Sonntag, 09. September 2012 15:49
Vladimir Sorokin
Der Zuckerkreml
(Sacharnyi Kreml, 2008)
Aus dem Russischen von Andreas Tretner
Heyne, 2012, Taschenbuch, 240 Seiten, 8,99 EUR, ISBN 978-3-453-40690-2 (auch als eBook erhältlich)
Von Gunther Barnewald
Die Geschichten des vorliegenden Buchs spielen wohl in der gleichen Welt wie Sorokins Roman „Der Tag der Opritschniks“ und zeigt ein Russland der nahen Zukunft (man schreibt das Jahr 2028), in dem Hochtechnologie und Aberglaube eine schockierende Synthese eingegangen sind. Russland ist politisch zu einem fundamentalistischen Staat herabgesunken, ein „Gossudar“ ist an der Macht, die Presse- und Meinungsfreiheit ist abgeschafft und Schergen des Herrschers (die Opritschnik beziehungsweise die Organisation der Opritschnina) verfolgen jeden Dissidenten mit unnachgiebiger Härte.
Das Land ist abgeschottet, man orientiert sich am neuen Freund China und irgendwo (wahrscheinlich an den Grenzen zum „dekadenten“ Westen) wird eine gewaltige Mauer gebaut. Das Internet wurde vom staatlich kontrollierten und zensierten Russennetz abgelöst. Wahrsager treiben öffentlich gefördert ihr Unwesen vor großen Menschenmengen, dabei immer regimekonforme Voraussagen von sich gebend. Wem dieses Land zu trist ist, der darf sich mit dem frei verkäuflichen Kokain zudröhnen.
Wie ein Kaleidoskop erzählt der Autor im vorliegenden Werk aus dieser Welt Geschichten. In 15 kurzen Erzählungen lernt der Leser diese „schöne neue Welt“ kennen. Dabei startet Sorokin fulminant mit der elfjährigen Marfuscha, indem er einen Tag aus dem Leben des Mädchens schildert. Diese Episode ist dann auch Highlight und Manko des vorliegenden Buchs, denn eigentlich möchte man mehr von dem Kind und seiner Weltsicht erfahren und muss feststellen, dass die meisten anderen Geschichten nicht die hohe Qualität von „Marfuschas Freunde“ haben.
Trotzdem erschließt sich hier ein abstoßend-faszinierender Kosmos von Willkür, Unterdrückung, Geilheit, Sucht, Machtstreben und menschlichem Elend. Dabei experimentiert der Autor geschickt mit verschiedenen literarischen Spielarten. So besteht eine Episode nur aus Gesprächen und der Angabe wer gerade spricht wie bei einem Theaterstück, in einer anderen Kurzgeschichte vermischen sich die verbalen Äußerungen einiger Personen in einer Menschenmenge, die gerade Schlange stehen. Auch die „alltägliche“ Arbeit eines Folterknechts wird beschrieben, der mit neuesten technischen Raffinessen einen Dissidenten ausquetscht. Dazwischen immer wieder kleine Durchschnittsbürger, die ihr Auskommen suchen, mächtige Apparatschiks, die ihren Gelüsten nachgehen und Menschen, die unter die Räder des Systems gekommen sind. Allgegenwärtig ist körperliche Gewalt in Form von Prügelstrafe, egal ob bei Kindern oder bei erwachsenen Gefangenen. Verbindendes Element der einzelnen Erzählungen sind die am Staatsfeiertag für Kinder ausgegebenen Zuckerkreml, die den Kindern in einer feierlichen Zeremonie zugänglich gemacht werden und die in fast jeder Story auftauchen.
Dem Autor gelingt ein erschütterndes Bild eines brutalen, machtgeilen Unterdrückungssystems, und ist damit gerade für ein russisches Buch erschreckend aktuell. Größtes Manko von „Der Zuckerkreml“ ist jedoch, dass all dieser Schrecken beim Leser recht wenig emotionalen Nachhall findet. Dazu fehlen dem Buch eindeutig die Identifikationsfiguren. So meisterhaft der Autor auch die einzelnen Episoden gestaltet, der Leser bleibt schlussendlich viel zu indifferent, da er kaum dazu kommt, mit irgendeiner der malträtierten Figuren warm zu werden.
Trotzdem ist das vorliegende Werk lesenswert und phasenweise auch erhellend, vor allem weil Sorokin aufzeigt, dass Brutalität und Irrationalität eine gute Gemeinschaft darzustellen scheinen, die einander befördern und befeuern. Wie schon in Otto Basils großartigem, aber schwierig zu lesendem Meisterwerk „Wenn das der Führer wüsste“, wo der Protagonist von Beruf Strahlenspürer ist und Räume auspendelt, die Astrologie und die Rassenlehre die bestimmenden „Wissenschaften“ der Nation sind (Basils Roman spielt in einer Welt, in der die Nazis den 2. Weltkrieg gewonnen haben), zeigt auch Sorokin eine Welt, in der für Rationalität und Mitmenschlichkeit kein Platz mehr ist, in der die Realität oft nur noch durch Drogen erträglich ist, und in der Freiheit und Mitbestimmung nur Verachtung und Hass hervorrufen bei vielen Bürgern.
Auf die aktuelle Situation in Russland muss man hierzu wohl gar nicht mehr hinweisen, auch wenn der Autor sein Werk bereits 2008 veröffentlicht hat und außer dem politischen System hier wohl die allgegenwärtig mafiösen Strukturen in seinem Land anprangern wollte. Aber vielleicht ist bald ja wieder alles eins; vielleicht war es aber auch nie wirklich getrennt in diesem schönen neuen Land.