Christian von Aster: Der letzte Schattenschnitzer (Buch)

Christian von Aster
Der letzte Schattenschnitzer
Titelillustration von Isabelle Hirtz
Klett-Cotta, 2011, Hardcover, 314 Seiten, 19,99, ISBN 978-3-608-93917-0

Von Carsten Kuhr

Da ich um all das wusste, wusste es auch mein Herr und ahnte bereits fünf Sommer nach seiner Geburt, dass der Mörtel, der die Welt zusammenhält, zu gleichen Teilen aus Lüge und Eitelkeit besteht (Seite 72)

George Ripley war einer, nein der bedeutendste Alchemist seiner Zeit, vielleicht gar aller Zeiten. Allerdings musste auch er einsehen, dass er den vereinten Kräften der Schattenmagier und der katholischen Kirche nicht gewachsen war. Seine Freunde und Anhänger, die Schattenschnitzer der Chaldäischen Schule, wurden gnadenlos gejagt und auf den Scheiterhaufen verbrannt, ihre Schatten im Limbus eingekerkert. Bevor auch Ripley von den Schergen der Kirche und den Schattensprechern aufgespürt und den reinigenden Flammen übergeben, sein Schatten an einem sicheren Ort auf ewig eingekerkert wurde, gelang es ihm, das Eidolon, einen künstlichen Zugang zum Limbus, an einem sicheren Ort zu verbergen.

Jetzt, Jahrhunderte später ist die Zeit gekommen, um den alten Plan des Alchemisten, Gott und dessen Schöpfung herauszufordern, die im Limbus gefangengesetzten Schatten zu befreien und diesen die Herrschaft über die Menschen zu geben, in die Tat umzusetzen. Zwei Kinder werden geboren, ausersehen die Welt zu wandeln. Die eine, Maria, ein seelenloses Gefäß in dessen Hülle das Eidolon schlüpft und die Seele des Neugeborenen dabei verdrängt, der andere, Jonas Mandelbrodt, ein Junge, aus dem einmal der mächtigste Schattenschnitzer der Geschichte werden soll. Seit seinen Babytagen unterrichtet ihn sein eigener Schatten in den vergessenen Künsten der Alchimisten und der verbotenen Magie der Schattenschnitzer. Eines Tages wird er über das Schicksal der Welt entscheiden.

Bis dahin ist es gar nicht so lange hin. Als der Schatten des letzten auf Erden verbliebenen Engels die Kinder vor dem sie verfolgenden Rat schützt, eskaliert die Situation. Der Rat der Schattensprecher, der den Zugang zum Limbus mit mächtigen, verborgenen Siegeln schützt, wird verraten, die Siegel eins ums andere gebrochen, die unsterblichen Schattensprecher ermordet. Wer ist der Verräter in ihren Reihen und was treibt ihn an? Und wie nur passen die beiden Kinder in die Vorgänge?

Christian von Aster ist bekanntermaßen ein Meister des Wortes. Seine Vorträge – Buchhandlungen preisen sie fälschlich als Lesungen an – sind Happenings, er ist ein Vortragender, der seine pointierten Texte lebt, der voller Energie und Esprit seine Zuhörer und Zuseher fesselt. Seine etwas andere „Zwergen“-Trilogie bei Lyx bot zwerchfellerschütternde Unterhaltung und nahm die Völkerromane gekonnt auf die Schippe. Nun hat er den Sprung zu Klett-Cotta geschafft.

In seinem neuen Roman greift er dabei alchemistische Themen ebenso auf, wie den Golem-Mythos, vermengt okkulte Themen mit seiner ganz eigenen, überbrodelnden Phantasie und unterhält den Leser ebenso spannend wie niveauvoll. Geschickt baut er mit dem letzten der Engelsschatten einen Handelnden auf, der den die Menschheit längst verlassenen Schöpfer noch gekannt hat, der als dessen Testamentsvollstrecker die weitere, selbstbestimmte Entwicklung der Menschen observiert, jedoch nicht lenkt.

Immer wieder lässt er, verborgen zwischen den Zeilen, dabei ernsthafte Gedanken einfließen, widmet er sich auch philosophischen Fragen. So geht es auch um die Angst vor Veränderung, um die Verantwortung des Einzelnen für das Allgemeinwohl, um Pflicht und Moral, aber auch um Freiheit und Selbstbestimmung. Verpackt hat er all diese ernsten, tiefgründigen Themen in eine packende Handlung, in der abwechseln Jonas’ Schatten als Ich-Erzähler und ein allwissender Erzähler von den Vorgängen berichten. Dabei ruht die Handlung im Hier und Jetzt, haben sich die überlebenden Alchemisten ihrer Umgebung angepasst. Verklausuliert geht es um Veränderung statt Stillstand, um die Tendenz der Menschen, sich des Neuen zu verschließen, an Überholtem festzuhalten und Veränderung gegenüber nicht aufgeschlossen zu sein.

Insoweit hat von Aster nicht nur einen unterhaltsamen, stilistisch ansprechenden und spannenden Roman vorgelegt, sondern einen Text verfasst, der zum Nachdenken anregen soll – und das ist beileibe nicht das Schlechteste, was man über einen Roman sagen kann.