Ursula K. Le Guin: Der Tag vor der Revolution (Buch)

Ursula K. Le Guin
Der Tag vor der Revolution
25 Science-Fiction-Storys
Übersetzung: Karen Nölle
Tor, 2025, Hardcover, 782 Seiten, 36,00 EUR

Rezension von Carsten Kuhr

Ursula K. Le Guin gehört unbestritten zu den wichtigsten Autorinnen unserer Zeit. Ihre Werke genießen, weit über die Science-Fiction-Fanbase hinaus, Anerkennung; ihre Stimme fand bei Leserinnen und Lesern jedweder Nationalität und Herkunft Gehör.

Ich lernte sie über ihre „Erdsee“-Romane kennen und lieben (zunächst erschienen auf Deutsch bei Heyne, dann in einer Neuauflage bei Piper; später folgte eine tolle Neuübersetzung in einem Band bei Tor).

Erst später entdeckte ich ihre bahnbrechenden Romane, die zunächst bei Heyne aufgelegt wurden. In den letzten Jahren haben Tor sowie der Carcosa Verlag die Autorin neu entdeckt und sowohl Neuauflagen als auch bisher unveröffentlichte Titel publiziert.

Das Besondere an ihren Werken - gleich welchen Umfang sie haben - ist, dass Ursula K. Le Guins Schreiben stets durch eine außergewöhnliche Mischung aus literarischer Tiefe, philosophischen Gedanken und der Berücksichtigung gesellschaftlicher Entwicklungen beeindruckt.

In oft sehr ruhig gehaltenen Texten bietet sie uns ihre Visionen an, versucht auszuloten, in welche Richtung Entwicklungen gehen könnten, und arbeitet dabei gerne mit Gegensätzen. Die inneren Gefühle ihrer Figuren sind ihr weit wichtiger als große Action-Szenarien.

Dabei hat sie ein offenes, kritisches Auge auf Geschlechterrollen, spricht sich deutlich für Feminismus, Gleichberechtigung und Toleranz aus. Immer sucht sie auch die Harmonie mit der Natur, betont die Bedeutung der Rücksichtnahme - nicht nur auf Lebewesen, sondern auch auf unseren Lebensraum.

Tor hat nun, passend zum Weihnachtsgeschäft, einen dicken Band im Hardcover aufgelegt. In diesem Band, lektoriert von Hannes Riffel, hat der Verlag fünfundzwanzig Erzählungen der Autorin versammelt.

Wie uns die Le-Guin-Kennerin und kongeniale Übersetzerin Karen Nölle im beigefügten Nachwort erläutert, stammen die enthaltenen Geschichten aus fast dreißig Jahren. Wie sie dort weiter ausführt, hatte die Autorin ab Beginn der 70er Jahre das Bedürfnis, „für sich zu ergründen, was es heißt, als Frau zu schreiben“ (S. 764). Dies spiegelt sich in ihren Erzählungen wider. So entführen uns die Geschichten zwar oft auf andere Planeten, in andere Welten, doch diese Bühnen sind nicht mehr als der Rahmen, durch den und mit dem sie sich mit den ihr wichtigen Themen auseinandersetzt.

Die Beziehungen der Menschen zueinander, die Selbstsicht der Individuen, die Darstellung unbewusster Verhaltens- und Denkweisen, die uns beeinflussen und bestimmen - all das wird von ihr ausgelotet. Immer steht bei ihr der Mensch im Zentrum, dessen Verhalten, geprägt durch die Gesellschaft, dessen Bild von dieser und vom eigenen Platz darin, der kritisch hinterfragt wird.

Das heißt nicht, dass sich die Erzählungen nicht spannend und kurzweilig lesen ließen - im Gegenteil. Doch Le Guin fordert ihre Rezipientinnen und Rezipienten dazu auf, zu reflektieren, mit- und nachzudenken.

So ist dies ein Band voller philosophisch-poetischer Texte, die uns viel geben - die anregen, selbst zu denken und den Blick für das Andere, aber auch auf uns selbst, zu schärfen.