Leigh Brackett: Das lange Morgen (Buch)

Leigh Brackett
Das lange Morgen
(The Long Tomorrow, 1955)
Übersetzung: Hannes Riffel
Carcosa, 2023, Paperback, 284 Seiten, 22,00 EUR

Rezension von Gunther Barnewald

Leigh Bracketts Roman stammt aus dem Jahr 1955 und wurde bereits zweimal ins Deutsche übersetzt, in allen Ausgaben radikal bis zumindest stark gekürzt (als Romanheft 1959 und als Pabel-Taschenbuch 1983). Die vorliegende Ausgabe weist 284 Seiten auf und präsentiert das Werk damit erstmals ungekürzt.


Die Welt hat einen Atomkrieg erlebt, der allerdings kaum Radioaktivität und Verheerung mit sich brachte. Stattdessen brachen Versorgung und Lieferketten in den Großstädten zusammen und zwangen die Menschen zur Flucht auf das Land. Viele verhungerten.

In den USA setzte sich danach eine Bewegung durch, die radikal verhindern wollte, dass wieder Großstädte entstehen. So muss die Einwohnerzahl einer Stadt beschränkt bleiben, wachsende Städte werden ausgebremst und beschränkt. Religiöse Eiferer habe das Sagen und verhindern nicht nur jeden Fortschritt, sie haben sogar dafür gesorgt, dass moderne Technik verboten ist.

Mennoniten, Amish und ähnliche Gruppen bestimmen über das Leben aller Einwohner der USA.

In dieser Welt wächst der junge Len Colter heran. Der neugierige Junge und sein rebellischer Vetter Esau träumen von einem Neuanfang, denken an moderne Technologien und durch Technik erzeugten Luxus, an Freiheit und Unabhängigkeit von der Natur. Deswegen fliehen sie von Zuhause und machen sich auf die Suche nach Bartorstown, jenem legendären Ort, der angeblich noch von fortschrittlicher Technik bestimmt wird, in dem die Menschen sich frei entfalten und moderne Erfindungen erproben dürfen.

Eine Reise ins Unbekannte, die für die beiden zur Erfüllung all ihrer Träume oder zu Enttäuschungen, Verbitterung und Resignation führen könnte...


Die Autorin macht es ihren bemitleidenswerten Protagonisten nicht gerade einfach. Die armselige Zukunftswelt nach dem Atomkrieg ist ein hoffnungsloser Fall, beherrscht von engstirnigen Gesetzen und irrationalen Ängsten, in der jeder Anschein von Hoffnung bitter bestraft wird. Prügelstrafen sind hier noch das kleinere Übel. Wer das System auch nur ankratzt, wird oftmals auch gleich von einer aufgebrachten Menge gelyncht. Keine Spur von Idylle oder pastoraler Gemütlichkeit. Religiöse Eiferer und ähnliche Fanatiker haben das System fest im Griff, minimalste Abweichungen werden drakonisch geahndet. Selbst das ersehnte Bartorstown erweist sich leider nicht als das, was die beiden Jungen sich erhofft und erträumt haben...

Bracketts Stärke ist das lebendige und vor allem elegische Erzählen. Durch die Augen Lens sieht der Leser eine Welt vor sich, die aus dem Traum eines radikalen Freiheits- und Fortschrittsfeindes zu stammen scheint. Engstirnigkeit, Kleingeistigkeit und Unfreiheit dominieren das Leben der Menschen.

Dieses Buch zu lesen ist leider so ernüchternd wie deprimierend. Brackett zeigt aber auch eine Wahrheit der menschlichen Zivilisation: Intoleranz und narzisstisches Dominanzstreben Einzelner verbauen manchmal den Menschen eine bessere, lichtere Zukunft.

Zwar ist das vorliegende Buch beileibe nicht die beste Erzählung der wunderbaren US-amerikanischen Autorin (die für ihre Drehbücher oft bekannter ist als für ihre Romane; so z. B. „Rio Lobo“, „Rio Bravo“, „Tote schlafen fest“ oder „Das Imperium schlägt zurück“), aber sicherlich ein nachdenkliches und vorzeigbares Werk, welches zu kritischen Gedanken anregt und auch Vieles erklären kann, was man als Außenstehender nicht an den USA verstehen kann, wenn es um Provinzialität und Sektierertum geht.

Eine Neuentdeckung wäre Leigh Brackett (die übrigens mit ihrem Autorenkollegen Edmond Hamilton verheiratet war, der die Figur des Captain Future erschaffen hat) und ihr Werk allemal wert.