Kai Meyer: Das Haus der Bücher und Schatten (Buch)

Kai Meyer
Das Haus der Bücher und Schatten
Knaur, 2024, Hardcover, 526 Seiten, 24,00 EUR

Rezension von Gunther Barnewald

Kai Meyer erzählt in seinem neuesten Roman eine interessante Geschichte, die auf zwei Handlungsebenen spielt, einmal im Jahr 1913 und dann noch im Jahr 1933.

Während die Handlung im Jahre 1913 im ehemaligen Livland (heute Teil der baltischen Staaten) spielt, ist der Ausgangspunkt für die Geschichte des Jahres 1933 das einst berühmte graphische Viertel in Leipzig, in dem viele Verlage ansässig waren, Buchbinder ihre Geschäfte hatten, Lagerhallen für Bücher standen und auch Antiquariate existierten. Hier verdienten früher viele Menschen ihr Geld mit dem und rund ums Buch, bis bei der Bombardierung 1943, dieses Viertel fast völlig vernichtet wurde.

Erzählt wird die Geschichte hauptsächlich aus der Sicht zweier Personen.

 

Im Jahr 1913 besucht die Lektorin Paula Engel zusammen mit ihrem Freund und Kollegen Jonathan Zirner den bekannten Autor Aschenbrand in einer Art Schloss im eisigen Livland. Das riesige Gebäude gehört eigentlich einer reichen, deutschstämmigen Familie, die aber angeblich zurzeit nach Riga verreist ist, um den eiskalten Winter in der Einöde zu meiden. Paula hat den Auftrag, dem erfolgreichen Autor endlich sein drittes Buch abzuschmeicheln, welches dieser nun schon seit einer Ewigkeit optimiert, während der Verlag inzwischen finanzielle Probleme hat. Ein neues Werk des beliebten Schriftstellers könnte wieder die Kassen klingeln lassen, was dringend nötig erscheint. Neben dem Schriftsteller befindet sich noch eine Haushälterin namens Rasa dort, die aber immer nur stundenweise in dem Gebäude weilt.

Während Jonathan, der zwar ebenfalls Lektor ist, aber auch an einem eigenen Buch schreibt, und Aschenbrand sich immer besser verstehen, wird Paula immer misstrauischer. Ist der Mann wirklich der bekannte Schriftsteller, so wie er behauptet? Und arbeitet er wirklich an seinem dritten Roman und ist fast fertig…?

Neben Paula im Jahr 1913 ist der zweite Protagonist der Kriminalkommissar Cornelius Frey, der 1933, einst vom Dienst suspendiert, gerade in diesen zurückgeholt wird, da die Polizei Personalmangel hat. Frey hatte sich geweigert, mehrere Morde einfach irgendwelchen Kommunisten zuzuordnen, was die regierenden Nationalsozialisten eigentlich verlangt hatten. Deshalb hatte man ihn freigestellt. Nun wird Frey Zeuge des Mordes an einer jungen Frau und einem seiner Kollegen namens Zirner und soll deshalb den Mord aufklären.

Die junge Frau hatte Frey schon am Tag vorher von einer Eisenbahnbrücke gepflückt, wo sie vielleicht Selbstmord begangen hätte, wenn der Kommissar sie nicht gerettet hätte. Und bald entdeckt Frey, dass es wohl eine Verbindung zwischen den Vorfällen in dem Schloss in Livland des Jahres 1913 und den Morden 1933 gibt, denn das Schloss brannte dereinst 1913 aus und man fand dort viele Leichen und scheinbar keine Überlebenden, obwohl der Schriftsteller Aschenbrand danach noch einige Bücher publizieren ließ...


Wunderbar ist die Einstiegsszene des Buchs, die frappant an jene berühmte Eröffnung aus Cornell Woolrichs großartigem Roman (und der tollen Verfilmung aus den 40er Jahren mit Edward G. Robinson) „Die Nacht hat tausend Augen“ (im Original „Night Has a Thousand Eyes“) erinnert, in der ein Polizist eine junge, scheinbar lebensmüde Frau von einer Eisenbahnbrücke holt, während Dampflokomotiven im Vorbeifahren ihre gigantischen Rauchwolken unter der Brücke emittieren und damit auch den Fußgängerüberweg einhüllen. Chapeau für diese herrliche Hommage.

Leider gelingt es dem Autor aber diesmal längst nicht so gut, die Atmosphäre des graphischen Viertels in Leipzig einzufangen, wie er dies in seinem Meisterwerk „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ so souverän getan hat, während das vorliegende Buch doch qualitativ zumindest dem thematisch etwas ähnlichen Werk „Die Bibliothek im Nebel“ das Wasser reichen kann.

Auch erscheint die Geschichte diesmal eher etwas eindimensional, die Verzahnung der beiden Zeit-Ebenen zu konstruiert. So richtig spannend ist dies leider nicht.

Auch die Protagonisten bleiben etwas blass; sowohl der übliche Hardboiled-Detektiv Cornelius Frey, der immer wieder derbe körperliche Misshandlungen erdulden muss (und diese natürlich eisern wegsteckt), als auch die naseweise, obergescheite Lektorin, die einem brutalen Verbrechen auf die Spur kommt.

Lobenswert erscheint dagegen, dass Meyer es schafft, die Herkunft zweier berühmt berüchtigter antisemitischer Werke anzudeuten (nämlich „Protokolle der Weisen von Zion“ und „Die Pläne der Ewigen“, zwei wohl von üblen Antisemiten erzeugte Hetzschriften, in denen angeblich mächtige und reiche Juden von ihrer Weltherrschaft salbadern und die von Verschwörungstheoretikern gerne immer wieder als Beleg für die „jüdische Weltverschwörung“ herangezogen werden) und deren Entstehung mutmaßlich etwas näher zu beleuchten -ein zweifellos interessanter Ansatz.

Das in diesem Buch enthaltene phantastische Element (eine Art rachsüchtiger Geist im alten „Schloss“ im Livland des Jahres 1913) wird dagegen leider etwas stiefmütterlich behandelt und bleibt leider viel zu weit im Hintergrund. Hier hätte man sich doch etwas mehr gewünscht als die lediglich zarten Andeutungen des Autors.

Auch sprachlich hat Kai Meyer in der Vergangenheit schon mehr geglänzt. Süffisante Formulierungen wie die auf Seite 49, wo die Lektorin Paula Engel gerade folgende Beobachtung macht: „Ich warf einen miesepetrigen Blick auf das Manuskript einer Autorin, die sich passabel verkaufte, aber Sätze baute wie kleine Kinder Bretterbuden, ganz windschief und wacklig“ sind leider viel zu selten in diesem Buch. Überhaupt gelingen Meyer diesmal viel zu wenige Szenen (wie die fulminante Anfangsszene) und Formulierungen, die einem wirklich im Gedächtnis bleiben.

Ein zwar gutes und lesbares Buch, mit interessantem Thema, aber insgesamt leider nur gute Gebrauchsliteratur und mehr nicht. Irgendwie austauschbar. Aber vielleicht kann man auch nicht immer ein Meisterwerk abliefern.

Wer Meyers „Die Bibliothek im Nebel“ zu schätzen wusste, dem wird bestimmt auch „Das Haus der Bücher und Schatten“ gefallen. Ein zweites Meisterwerk wie „Die Bücher, der Junge und die Nacht ist“ das vorliegende Werk aber leider nicht geworden!