Simone Keil: Das Mädchen mit dem Porzellangesicht (Buch)

Simone Keil
Das Mädchen mit dem Porzellangesicht
Hobbit Presse, 2024, Hardcover, 224 Seiten, 22,00 EUR

Rezension von Carsten Kuhr

London, Ende des 19. Jahrhunderts. Als Kazuki Kobayashi vor Jahrzehnten in die britische Hauptstadt kam, besaß er nur das, was er am Leibe trug. Er wollte arbeiten, sein Glück machen, eine Familie gründen - und er hatte, anders als viele andere Immigranten, einen Plan.

Er fertigt Puppen - fast lebensechte Kunstwerke, die von winzigen Zahnrädern angetrieben, die Illusion vermitteln, eben beinahe lebendig zu sein. Für solch große Kunst, da war er sich sicher, muss ein Markt da sein. Und wirklich schaffte er es, sich einen Ruf zu erarbeiten.

Dass es ihm und seiner Familie finanziell an nichts mangeln soll, dafür hat er gesorgt. Ein vielseitiger Vertrag mit dem etwas zwielichtigen Francis Fairweather, sorgt dafür, dass das mühsam verdiente Geld gewinnbringend angelegt wird und beständig mehr wird. Die Gegenleistung: Jedes Quartal bekommt der Geldjongleur eine Puppe gratis.

Eines Tages, wir ahnen es, wird deutlich, dass unser Handwerker den Vertrag vielleicht doch etwas genauer hätte durchlesen sollen. In § 54 Absatz 4 ist geregelt, dass „falls unvorhergesehene Umstände eintreffen und es vonnöten ist, kann Francis Fairweather, Advocat von Kobayashi Kazuki, Puppenmacher, weitere Sachleistungen einfordern, die ihm unverzüglich auszuhändigen sind. Falls dies nicht geschieht, wird dies als Vertragsbruch angesehen und der Vertrag ist als null und nichtig einzustufen“. Heißt nichts anderes, als das gesamte angelegte Vermögen ist mit einem Schlag perdu.

Als das Ehepaar Kobayashi ihre Tochter Miyo bekommt, ist es soweit: Der Geschäftspartner ohne jegliches Gewissen beansprucht das frisch geborene Kind!

Zwar gelingt es unserem Puppenmacher, seinen dämonisch agierenden Vertragspartner zunächst hinzuhalten, lange aber hat unser genialer Puppenmacher damit nicht wirklich Zeit gewonnen. So fertigt er eine Porzellanmaske für seine Tochter, um diese vor Fairweather zu verstecken.

Unsere kleine Familie scheint gerettet, zieht weg und hat es - scheinbar - geschafft. Außer Miss Whittles, der mechanischen Haushaltshilfe mit Lochkartengehirn, dem Hausarzt sowie der Hauslehrerin Jenny, bekommt Miyo zunächst niemand zu Gesicht. Bis diese den Gärtnerssohn Max begegnet und eine zarte Freundschaft ihren Anfang nimmt.

Als die Kobayashis sterben, bringt die mechanische Haushälterin Miyo an einen sicheren Ort und vernichtet alle Hinweise auf ihre Existenz.

Dumm, dass Fairweather einfach nicht aufgibt, das Mädchen zu suchen. Angeleitet durch seine Eule, Lady Strix Brouillard - ja, sie war nicht immer eine Eule, lange Geschichte - kommt er Miyo immer näher…


Was ist das für ein dünnes Buch, das uns Klett-Cotta innerhalb seiner Hobbit Presse vorlegt?

Ein Roman voller leiser Töne, ein Buch, das mehr das Herz als das Adrenalin anspricht, ein Band, der verzaubert, der melancholisch macht.

Schon das Cover - ohne Umschlag - weist den Weg. Zwei Masken, ein paar Vögel und der Titel in geschwungener Schrift machen deutlich, dass es hier weder martialisch noch gigantisch zugehen wird. Das wirkt edel, macht auf den Inhalt neugierig und weist zudem den Weg.

Simone Keil, die ich aus ihren Lacroix-Steampunk-Romanen kenne und schätze, legt ein ganz ruhiges, atmosphärisch dichtes Werk vor. Es geht um das Schicksal des Mädchens mit der Maske, die von einem zwar nicht sonderlich intelligenten, dafür umso hartnäckigen Häscher verfolgt wird. Mit Lady Strix zieht gar ein wenig Humor in die eigentlich traurige und melancholische Handlung ein.

Der kurze Roman lebt natürlich von seinen liebevoll gezeichneten Figuren. Da ist der gestörte Francis Fairweather, der Herzen sammelt und ohne Gewissen ein scheinbar problemloses, aber eben auch innerlich leeres Leben lebt. Oder der Vater und Handwerker Kobayashi, eigentlich ein einsamer, aber liebevoller und sorgender Vater, der eine schlechte Entscheidung getroffen hat und mit den Folgen leben muss. Alles passt hier zusammen, verbindet sich vor der Kulisse des ausgehenden 19. Jahrhunderts, das uns die Autorin, auch in Einzelheiten überzeugend, kredenzt.

Gerade das Finale lässt viele Deutungsmöglichkeiten offen. Hier ist die Leserin beziehungsweise der Leser gefordert, sich selbst einzubringen, mitzudenken und letztlich für sich zu entscheiden, was „unschuldig“ im Sinne des Vertrags nun bedeutet.

Letztlich ist die Geschichte der Miyo eine Geschichte voller leiser, trauriger Momente aber eben auch voller Hoffnung, die man nie aufgeben sollte, nie aufgeben darf.