Stefan Blankertz: Der Lamo-Kodex (Buch)

Stephan Blankertz
Der Lamo-Kodex
Edition Phantasia, 2010, Paperback mit Klappenbroschur, 304 Seiten, 17,90 EUR, ISBN 978-937897-41-7

Von Oliver Naujoks

Im Kölner Zoo haben sich sicherlich schon viele wundersame und eigenartige Dinge zugetragen. Das, womit Stephan Blankertz’ Roman „Der Lamo-Kodex“ beginnt, aber sicherlich noch nicht: Mitten im Affengehege buddelt sich eine Gruppe Atlanter aus dem Boden. Also Menschen aus dem einst vor Jahrtausenden verschütteten Atlantis, die auf einer langen, gefährlichen Reise an die Oberfläche endlich als Ziel gekommen sind – und dort nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen werden.

Da die Atlanter eine andere Sprache sprechen, reaktiviert man einen versierten Anthropologen aus dem Ruhestand, den Altlinken Professor Brause, der herausfindet, dass die Atlanter aus zwei Ethnien bestehen und sogar zwei völlig unterschiedliche Sprachen sprechen, das Hibala und das Atlants. Aber man begegnet den Atlantern, deren Handlungsweisen doch sehr unterschiedlich zu den Deutschen beziehungsweise den Kölnern sind, auch mit einer gehörigen Portion Skepsis, Befremdlichkeit – und auch mit Gewalt…

Die Besonderheit dieses Romans fällt schon beim ersten Aufschlagen auf: Denn der nicht sonderlich lange Roman enthält hinten nicht nur eine, sondern gleich zwei Kurzgrammatiken! Der Autor hat sich tatsächlich die Mühe gemacht, diese beiden Atlanter-Sprachen vollständig neu zu entwerfen, mit einem grammatikalischen Gerüst zu versehen und einer längeren Vokabelliste als Hilfestellung für die Leser. Ein enormer Aufwand für einen so kleinen Roman, in dem eigentlich nicht sehr viel passiert und man, ketzerisch gesagt, diese beiden Sprachen vermutlich auch mit etwas Autoren-Handwedeln hätte ent-/einwerfen können.

Die durchaus hübschen Erstkontakt-Szenen der Annäherung hätten wahrscheinlich auch so funktioniert. Der riesige Fleiß und die Akribie des Autors zahlen sich somit dramaturgisch und narrativ leider nur bedingt aus, oder schlagen sogar ins Gegenteil um, weil es den Roman mitunter überfrachtet und man kein Agga-a-harasamal-naharllamarsch-hirowaletzki mehr lesen kann.

Hinzu kommen ferner noch gleich drei deutsche Sprachebenen: ‚Normales’, gegenwärtiges Deutsch, dann manchmal ein seltsam antiquiertes Deutsch, das der Autor dafür viel zu jungen Figuren in den Mund legt, da wird noch wie in den 60ern und 70ern die „Mücke gemacht“ oder man „tigert“ in einen anderen Raum. Als letzte Sprachebene ist schließlich die Sprache dieses Professor Brause vorhanden, der als liebevolle Karikatur schon pathologisch fast immer nur im Konjunktiv (alter Professor halt) redet, sich aber Mühe gibt, im Indikativ reden zu wollen. Dieser Running Gag funktioniert so, wie schlechte Radio-Comedy am Morgen: Zunächst schüttelt man den Kopf, weil es nicht lustig empfunden wird, dann gewöhnt man sich daran, es stört nicht mehr, schließlich schmunzelt man und am Ende ist man weichgekocht und lacht dann doch als Leser. Nur: Als der Verfasser dieser Zeilen hier gerade anfing, den Kojunktiv-Running Gag so richtig lustig zu finden – da war der Roman leider zu Ende.

Die Betonung eines kurzen Romans und die Überfrachtung ist wichtig, denn neben den vielen Sprachen und Sprachebenen bekommen wir auch noch eine Mythologie von diesem Atlantis mitgeteilt, die teilweise die Handlung doch arg bremst und in dieser Ausführlichkeit in einem solchen Roman einfach zuviel des Guten ist. Zumal den Autor manchmal etwas Schwerhörigkeit plagt, was sprachlich klingt und was nicht, da macht sein Sprachgefühl einfach manchmal die Mücke und tigert davon. Das gilt nicht nur bei Zahnfleischbluten induzierenden Namen wie Wadschliki oder Agga, Namen wie aus einem „Perry Rhodan“-Roman, bei welchem der Autor keine Zeit mehr für gescheite Namensfindung gehabt hatte. Nein, noch mehr: Wenn er den zentralen Schöpfungsmythos von Atlantis beschreibt, liebevoll sogar alte fiktive Codices im Anhang reproduziert (in zwei Sprachen!), dann bekommt man einfach Bauchschmerzen, wenn die große Retterin und Religionsstifterin einer atlantischen Kultur vor vielen tausend Jahren einen so modern-deutsch-gegenwärtigen Namen wie Joana hat. Vielleicht war eine Joana die Muse des Autors (wie die Beatrice bei Dante), was nett wäre, und auch Jesus hieß zu damaliger Zeit in der Landessprache aramäisch nicht genau ‚Jesus’, aber trotzdem: Ein Jahrtausende alter Mythos und ein so moderner Name wie Joana, das beißt sich sprachlich im Ohr, da fallen die Pappkulissen im potemkischen Dorf namens Atlantis, das der Autor errichtet hat, einfach um. Und Pappkulissen sind es. Zwar finden sich hin und wieder nette Einsprengsel zu einer völlig anderen Kultur und Technologie, eine stimmige Welt findet man da aber nicht vor, dafür ist das Name-Dropping einfach zu wenig, man bleibt ständig außen vor. Dabei hilft es auch nicht gerade, dass der Autor auf die Hohlwelttheorie rekurriert, was den Roman heute (anders noch als Jules Vernes „Reise zum Mittelpunkt der Erde“) von der SF in die Fantasy hinüber einordnet – die Illusion will aber einfach nicht richtig funktionieren, da man selbst als phantasiebegabter und Eskapismus-williger Leser große Schwierigkeiten hat, geologische Tatsachen zugunsten einer fiktiven Hohlwelt im Kopf beiseitezuschieben. Da hätte vermutlich der Autor entweder die Illusionsmaschine in einem höheren Gang fahren lassen, oder sich zumindest nicht unsere gegenwärtige Erde aussuchen sollen.

Nett zu lesen und den Roman durchaus aufwertend sind die vielen politischen Gedanken, die der Autor in den Text hat einfließen lassen, der übrigens, obwohl er einen Alt-68er sehr sympathisch zeichnet, keinesfalls dieser politischen Strömung im wahren Leben angehört. Manchmal geraten diese politischen Anspielungen aber ins arg weit Hergeholte; dass Türken Vorbehalte gegen diese Atlanter haben, weil sie gehört haben, dass diese Atlanter angeblich griechische Vorfahren haben sollen, das ist zwar phantasievoll – aber, wie gesagt, wirklich weit hergeholt.

Die Geschichte selbst an sich ist eher dünn und rettet sich nach einer durchaus schönen Exposition und gelungenen Erstkontaktszenen in langatmige Pseudomythologie (die große Retterin Joana möge dem untertänigen Verfasser dieser Zeilen verzeihen) und eher lauwarmes Action-Getümmel gegen Ende, so dass sich die erste Hälfte des Bandes noch vergnüglich liest, dann aber der Roman stark abbaut und man am Ende sogar froh ist, fertig zu sein, nach nur knapp 300 Seiten.

Der Autor hatte offensichtlich riesigen Spaß beim Erschaffen einer neuen Welt, eines neuen Mythos, und zweier neuer Sprachen. Wenn Leser diese Neigungen aber nicht unbedingt teilen und solcherlei nur als Gerüst für eine Geschichte ansehen, dann zahlt sich der Fleiß des Autors bei der Lektüre des Romans leider nicht in Lesevergnügen aus. Wer an solchen Schöpfungen Freude hat, wird „Der Lamo-Kodex“ möglicherweise sogar mit etwas Gewinn lesen, andere Leser, wie auch dieser hier, bleiben mit dem Eindruck eines damit überfrachteten, gegen Ende stark abbauenden Roman etwas unbefriedigt zurück.