Michael Schmidt & Achim Hildebrand (Hrsg.): Zwielicht 19 (Buch)

Michael Schmidt & Achim Hildebrand (Hrsg.)
Zwielicht 19
Titelbild: Björn Ian Craig
2023, Paperback, 288 Seiten, 14,00 EUR

Rezension von Carsten Kuhr

Nach wie vor - und dies ist mehr als zu begrüßen - ist die Phantastik-Szene, die sich der dunkleren Art der Texte zuwendet, sehr aktiv. Jährlich treffen sich die Weird-Fiction- Fans in Marburg, mit „Cthulhu Libria Neo“ und „Zwielicht“ und „Zwielicht Classic“ haben die Leserinnen und Leser gleich drei höchst aktive Periodika zur Verfügung, die sie mit neuem kürzeren Lesefutter, aber auch Sekundär-Artikeln versorgen.

Als mich der Herausgeber Michael Schmidt fragte, ob ich die neueste Ausgabe, eben jene Nummer 19, besprechen möchte habe, ich gezögert. Nicht, weil ich an der gebotenen Qualität gezweifelt hätte, nur nach meiner ernsthaften Erkrankung im Frühjahr habe ich gegenwärtig dem literarischen Grauen ein wenig abgeschworen - zu einschneidend sind die Grauen, die einem in Krankenhauszimmern und OP-Sälen begegnen können.

Dann aber war die Neugier, welche Preziosen die beiden Herausgeber dieses Mal ausgewählt haben, doch zu groß - und ich begann mit der Lektüre des Bandes.

Fünfzehn Erzählungen erwarten uns, ergänzt durch zwei Artikel.

Um was geht es nun vorliegend?


In Ina Elbrachts „Monsieur Ortolan“ begegnet uns ein reicher Mann, der entführt wurde. Seine Kidnapper spielen ihm auf einem altertümlichen Kassettenrekorder Aufnahmen vor, die auf den ersten Blick nichts mit seiner Situation zu tun haben. Dann werden die Gründe für seine Entführung langsam deutlicher; er würde alles, wirklich alles tun, wenn er sich aus der Verantwortung stehlen könnte, doch…

Torsten Scheibs „Wenn die Dunkelheit ruft“ beschäftigt sich verklausuliert mit einem schrecklichen Thema, dem Schlimmsten, was einem Menschen passieren kann: der Verlust eines Kindes. In einer abgelegenen Ruine haust die Mutter, einem Bau, der früher als Tempel eines Bacchanten-Ordens gedient hat - nun hört sie des Nachts Stimmen - auch die ihrer Tochter.

Algernon Blackwoods „Kains Sühne“ berichtet uns von Cousins, die eine seltsame Verbindung zueinander hegen. Der Eine wacht über die Sicherheit und den Erfolg des Anderen; eine Wacht, die ihren Ursprung tief in der Vergangenheit in einem anderen, früheren Leben hat.

Nele Sickel, „Geburtstag ohne Simon“: Ein Geburtstag und gleichzeitig Jahrmarkt, was kann es Besseres geben? Doch ohne den besten Freund bleibt alles langweilig und trist. Bis unser Erzähler in einer Wahrsager-Bude einen Wunsch erfüllt bekommt; gegen seine Überzeugung klappt es, er geht mit einem Gameboy nach Hause. Natürlich geht er wieder hin; dieses Mal wünscht er sich einen Kuss der Seiltänzerin - wieder geht sein Wunsch in Erfüllung. Als er sich als Nächstes ein Abenteuer, wünscht geht auch dieser Wunsch in Erfüllung - leider.

In Lena Marliers „Matriphagie“ begegnet uns ein missbrauchtes Kind. Als die Frucht ihres Leibes zur Welt kommt, will sie dieses schützen - auch wenn sie aus einem Artikel nur weiß, wie Spinnen dies bewerkstelligen.

J.H. Schneiders „Piotrek lebt“ zeigt uns eine Welt, eine Erde in der selbige plötzlich zur Hohlwelt wurde - einer immer kleiner werdenden Hohlwelt, in der ständig Orte verschwinden.

Was wäre, wenn einer der neumodischen, semi-intelligenten und autarken kleinen Helfer einen eigenen, morbiden Willen entwickeln würde? Die Antwort darauf gibt Vincent Voss in seinem Beitrag „Die Verschwörung der Mähroboter“.

Wir wissen es, das geflügelte Wort von wegen „Körpergeruch macht einsam“, hat seine Berechtigung. In Erik Hausers „Gesicht im Staub“ lernen wir Hebert kennen, der, nachdem seine Frau ihn verlassen hat, verwahrlost. Seine Skat-Brüder suchen den Rentner in seiner Wohnung, finden aber nur riesige Müllberge - sich bewegende Müllberge.

Brian Evensons „Die Abfolge“ stellt uns einen der kommenden Horror-Autoren vor, der 2024 eine Gastprofessur in Berlin antritt. In der Geschichte lernen wir einen gelähmt im Rollstuhl sitzenden Großvater und seine beiden Enkel, Zwillinge, kennen. Ein Spiel, das einer der Beiden geträumt hat, führt diese auf die Spur der Erkrankung ihres Großvaters - mit drastischen Folgen.

Glen Sedis „Unsere Anhängsel“ entführt uns in das Grauen eines Krieges - mehr noch, in die Hilflosigkeit im Sanitätszelt. Zumal in den Verwundeten vom Feld der Ehre nicht etwa nur Kugeln stecken, in ihnen entwickeln sich ganze fremde Gliedmaßen, die es zu amputieren und zu verbrennen gilt. Doch ist es damit getan, entwickeln sich wirklich nur Gliedmaßen?

Karin Reddemanns „Vergissmeinnicht“ ist im Studenten-Milieu angesiedelt. Eine Studentin hat einen hartnäckigen Verehrer: einen jungen Kommilitonen, der es immer wieder mit seinen klassischen Gedichten bei derselben Art von Frau versucht - und er überreicht seiner Auserwählten am 14. Februar einen Strauß Vergissmeinnicht… und wehe, wenn sie ihn ablehnt, dann droht Ungemach.

In Utz Anhalts „Das Schwert“ begegnet uns ein Loser. Der junge Mann, der auf dem Schulhof von den Rowdies um seine letzten Pennys gebracht wird, lebt in einer Phantasiewelt, in der er als König der Pikten verehrt wird. Als eine Gang ihn nachts überfällt, greift er, schwer verwundet, zu seinem Plastikschwert…

In Philip Krömers „Alles hat seine Zeit“ hat die Menschheit das Altern besiegt: eine Tablette mit 25 Jahren stoppt die Alterung, eine zweite Tablette zum 100. Geburtstag sorgt dafür, dass die Erde nicht an Übervölkerung zugrunde geht. Nur, dass Manche, Methusalems genannt, die zweite Tablette verweigern - hier kommen die Jäger ins Spiel. Dieses Mal sind sie dem Ältesten der Methusalems auf der Spur.

Andreas Müllers „Zwölf Uhr mittags“ thematisiert die Auswirkung eines Schreiblehrfadens auf einen Horror-Autor - dessen neue Geschichte plötzlich und unerwartet ganz reale Züge annimmt.

Arabella Kenealys „Das heimgesuchte Kind“ nutzt eine ungewöhnliche These, nach der eine Untat eventuell erst in einem späteren Leben gesühnt werden muss. Als ein Baby das Licht der Welt erblickt, verhält es sich ganz untypisch: immer wieder krabbelt es zu der Hütte, in der die Mordtat geschah - Vagabunden hatten dort des Nächtens den Geist des Ermordeten zu sehen geglaubt. Was zieht das Kleinkind an?

Karin Reddemann berichtet in „Roanoke: Blutmond über der „Lost Colony““ von dem gleichnamigen Ort in North Carolina, einem Ort, an dem 118 englischen Kolonialisten spurlos verschwanden; was nur passierte dort Ende des 16. Jahrhunderts?

Matthias Käther beschäftigt sich in „Viktorianischer Schrecken“ mit der Schauer-Literatur zwischen 1860 und 1910. Hier berichtet er nicht nur von nach wie vor bekannten und beliebten Romanen, er verweist auch auf die Prägung durch die Veröffentlichung in Magazinen. Zunächst nur im „Blackwood’s Magazine, folgten diesem dann Magazine, die erfolgreiche Autorinnen gründeten und die übersinnliche Literatur hoffähig machten.

Den Abschluss des Buches bildet wie gewohnt eine Auflistung der Ergebnisse des Vincent Preises und des Rein A. Zondergeld-Preises.


Wie man sieht, erwartet uns wieder eine wahrhaft bunte Mischung an Beiträgen. Welche Geschichte mir nun am besten gefallen hat? Eine Frage, die nicht einfach zu beantworten ist.

Gemeinhin warten wir bei Kurzgeschichten immer auf den plötzlichen, überraschenden Schluss. Hiervon gibt es einmal mehr so einige, die uns staunend, sprachlos oder geschockt zurücklassen. Am Intensivsten fand ich Glen Sedis „Anhängsel“. Hier portraitiert der Verfasser nicht nur in einigen wenigen Sätzen - aber eindringlich - quasi als Hintergrund die Grauen des Krieges, auch sein Twist der Story wusste mich zu überraschen und zu bannen

Ina Elbrachts Beitrag besticht durch seine ganz eigene Atmosphäre, Karin Reddemanns durch ihre wunderbar stimmige Zeichnung der Studenten. Eigentlich weiß wirklich jeder Beitrag, auf seine ganz eigene Art zu überzeugen, so dass ein jeder Rezipient hier fündig werden wird.