Michael Schmitt (Hrsg.): Wandler Weird Anthologie (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Donnerstag, 31. August 2023 11:34
Michael Schmitt (Hrsg.)
Wandler Weird Anthologie
Übersetzung: Eva Bauche-Eppers, Joachim Körber, Michael Sieferer
Titelbild: Johann Henrich Füssli
Wandler, 2023, Paperback, 462 Seiten, 29,95 EUR
Rezension von Carsten Kuhr
Seitdem der Wandler Verlag vor einigen Jahren quasi aus dem Nichts in der deutschsprachigen phantastischen Verlagslandschaft auftauchte, hat sich der kleine wohlfeile Verlag einen guten Ruf erarbeitet.
Der Verlag hat sich erfolgreich der Publikation gehobener Phantastik und Weird Fiction verschrieben.
Die neueste Publikation des Wandler Verlags präsentiert sich als erste Anthologie im Programm. Unter dem Titel „Wandler Weird Anthologie“ erwarten Interessierten zwölf Geschichten zeitgenössischer Autoren. Die Verfasser lesen sich fast wie ein Who is Who zu der modernen Weird Fiction.
Den Auftakt macht nach einem kurzen Vorwort von Herausgeber und Verlagsinhaber Michael Schmitt Geoffrey Thomas. In „Geister in Bernstein“ stellt dieser uns einen gealterten Mann vor. Vor Jahren, als er in der alten Fabrik - die schon lange aufgegeben wurde und langsam zerfällt - im Bereich der Schuh-Herstellung beschäftigt war, hatte er noch Träume. Er heiratete eine junge, hübsche Frau, erwarb ein Haus und wollte ein wenig das Glück des amerikanischen Traums leben. Das Haus gehört schon lange der Bank und die Beziehung ist ein gegenseitiges Ignorieren, so dass es ihn zum Ort zurückzieht, an dem er das letzte Mal glücklich war. In der Fabrik trifft er auf die Figur einer unbekleideten Frau, in deren Inneren ein Fötus heranzuwachsen scheint. Als er die Figur öffnet, wird seine größte Furcht Wirklichkeit…
W. H. Pugmire erzählt in „Lache, Bajazzo“ von einem Autor, der sich, um sich ganz seine Muse hingeben zu können, ein halbes Jahr in eine einsame Wohnung zurückzieht. Als er seine Nachbarin kennenlernt, und diese ihn zu ihrem vermeintlichen Onkel einlädt, ahnt er nicht, dass er einem uralten Geheimnis und damit verbunden einem ewigen Elend auf der Spur ist.
In Scott Thomas’ „Die Lichtung“ begegnen wir einem kleinen Mädchen, das im Wald eine kreisrunde Lichtung findet. Auf dieser gibt es merkwürdige Steine, die an Schädel erinnern und in denen vermeintliche Edelsteine als Augen liegen. Als ihre Großmutter mit ihr abends zu Lichtung zurückkehrt, um weitere dieser Edelsteine zu sammeln, werden die Beiden bereits erwartet…
Jessica Landry entführt uns in „Auch im Dunkeln werde ich Dich finden“ in die Zukunft. Erinnerungen sind etwas Kostbares. Dies gilt insbesondere dann, wenn man Erinnerungen mittels eines in den Kopf implantierten Chips löschen kann. Was aber, wenn die Erinnerungen sich nicht löschen lassen und lebendig werden? Eine Verwertin von Verstorbenen muss erkennen, dass Erinnerungen Macht haben.
Stephen Graham Jones’ „Von Wölfen und Menschen“ stellt uns Wandelwesen vor. Werwölfe sind eine besondere Spezies. Dies gilt umso mehr bei der Geburt eines Werwolfs. Erst wird die Angelegenheit für die Mutter schmerzhaft, dann blutig, ja tödlich. Um dem Kind die Wahrheit zu verschweigen, wird oftmals eine Lüge in die Welt gesetzt, doch wehe wenn der junge Werwolf der Wahrheit auf die Spur kommt.
Anne Neugebauers „Der Gesang der Sirene“ nutzt eine uralte Überlieferung als Aufhänger. Nichts auf der Welt kommt bekannterweise dem Gesang einer Sirene gleich. Doch um dieses wunderbare Kunststück zu genießen, benötigt es einen Musiker, der mit seiner Folterung erst die Sirene zu ihren Leistungen anspornt…
Philip Fracassi berichtet uns in „Altar“ von einem heißen Sommertag. Das ideale Wetter, um im Freibad nach etwas Abkühlung zu suchen. Was aber, wenn sich im Boden des großen Beckens eine Öffnung auftut und etwas Gefräßiges dort auf Nahrung wartet?
Christopher Slatsky führt uns in „Der unermessliche Kadaver der Natur“ in den Nordwesten der USA. Selbstmord-Sekten sind selten geworden. Glücklicherweise, doch als in Portland in Oregon eine entsprechende Sekte - respektive deren Leichen - gefunden wird, wird eine angesehene und erfahrene Anthropologin von DMORT zur Bergung, Untersuchung und Klassifizierung der gefundenen menschlichen Überreste gerufen. Es gibt erste Hinweise darauf, dass es sich eben nicht um einen Massenselbstmord handelt. Und etwas stimmt mit den Vogelscheuchen nicht, die auf dem Anwesen der Sekte stehen. Dann werden Überreste von Kindern gefunden, obwohl auf der Farm gar keine Kinder lebten…
Richard Gawin berichtet uns in „Ein schwaches Bellen aus der Ferne“ vom Bericht eines jungen Mannes, der im Auftrag der Mutter nach den Umständen des Ablebens seines Bruders forscht. Er stößt auf Überbleibsel, Arcane Beschwörungen, findet Hinweise auf Astralreisen und einen geflügelten Hundewächter, der vor der Veränderung der Welt warnt…
Maura McHugh warnt in „Diät“ eindringlich vor den Folgen des Schlankheitswahns. Was kann eine Diät alles aus einem Menschen machen? Flugs wird man die Pfunde los, ist agiler, attraktiver und erfolgreicher. Dass man dafür einen widerlich nach verfaultem Fisch schmeckenden Kräutersud zu sich nehmen muss, ist zu verschmerzen, oder…?
Der wundervolle Laird Barron entführt uns in „Die Männer von Porlock“ zum Anfang des 20. Jahrhunderts in die damals noch unberührten Weiten Amerikas. Holzfäller roden die Hügel, nicht ahnend, dass in und unter den Bäumen etwas Uraltes lauert, das sie nur aus dem überlieferten Märchen kennen - dies wird sich ändern.
Den Abschluss bildet dann mit „Die letzte Offenbarung von Gla’aki“ eine lange Novelle, schon eher ein Kurzroman aus der Feder des begeisternden Ramsey Campbell. Ein Bibliothekar macht sich im Auftrag seiner Universität auf in ein kleines Küstenstädtchen, um dort eines der seltensten okkulten Werke die je gedruckt worden sind als Stiftung in Empfang zu nehmen. Zunächst überrascht ihn, dass sich herausstellt, dass sich die neun Bände der Matterhorn-Edition von „Die Offenbarungen von Gla’aki“ im Besitz von neun verschiedenen Honoratioren der Stadt befinden und er diese einzeln besuchen muss, um die Gabe entgegenzunehmen. Dann, dass die Besitzer die überaus wertvollen Bücher überhaupt herschenken, statt sie meistbietend zu versteigern. Mehr aber noch verblüfft es ihn, wie er höchst willkommen jeweils empfangen wird - als käme ein verlorener Sohn der Stadt zurück, ein vermisstes Kind, das seine Heimat wiederfindet und bleiben soll.
Thematisch bieten sich die Beiträge der Anthologie vielfältig an. Es gibt die erwarteten Reminiszenzen an Lovecrafts „Die Großen Alten“, aber auch Geschichten, die ganz andere Themen, Motive aufgreifen und Schwerpunkte setzen. Die Handlungen sind sowohl in der Vergangenheit, wie auch in der Jetztzeit angesiedelt, werfen blitzlichtartig einen Blick auf eine Situation, die ganz in der Realität zu fußen scheint, bevor dann etwas Unbekanntes, etwas Rätselhaftes in diese eindringt. Das muss nicht immer etwas Böses sein, das sich hier manifestiert; gerade die Beiträge, die das Fremde als etwas beschreiben, das sich dem menschliche Verständnis entzieht, das man nicht begreifen und damit nicht werten und verstehen kann, verstörten mich dabei am Ehesten.
Allen Beiträgen gemeinsam ist ihre handwerkliche Qualität (in den sehr gelungenen Übertragungen der drei Übersetzer), ihre jeweilige Eigenständigkeit und der Eigenschaft, die Leser mit der Pointe zu überraschen.
So bietet der Band eine wundervoll gelungene Zusammenstellung dessen, was Michael Schmitt in seinem Verlag präsentieren möchte: Phantastik die überrascht, die - ja, auch - gruselt, die markante Figuren und Situationen bietet und uns nicht kalt oder distanziert bleiben lässt.