Robert Kraft: Wir Seezigeuner 2 (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Dienstag, 09. Mai 2023 08:56
Robert Kraft
Wir Seezigeuner 2
Kapitel 44-85
Titelbild: Adolf Ward
Verlag Dieter von Reeken, 2023, Hardcover, 532 Seiten, 35,00 EUR
Rezension von Carsten Kuhr
Weiter geht es mit der Biographie eines Seefahrers, der spät in seinem Leben ein eher zurückgezogenes Dasein als Leuchtturmwächter an der Ostküste der Vereinigten Staaten fristete. Davor aber war sein Leben - nun, nennen wir es abenteuerlich! So in der Art eines Allan Quatermain gemischt mit „Graf Luckner“ zog er über die Meere, erlebte Abenteuer, forschte auf allen Kontinenten in urwüchsigen Landschaften, machte Entdeckungen und gewann sowohl Schätze wie auch, weit wichtiger, Freunde und Verbündete.
Am Schluss des ersten Bandes (von vier Büchern) seiner Erlebnisse ging er wieder seiner eignen Wege, hat Kameraden ebenso wie etwas merkwürdige Unterstützer gefunden, dafür Frau und Kind gen New York gesandt und macht sich an Bord von einem Dampfer gezogenen Archen, auf ins Landesinnere von Afrika. Hier suchen sie wilde Tiere, die sie fangen und an Zoos und Schausteller verkaufen möchten. Neben Flusspferden, Schlangen und Antilopen steht auf ihrem Zettel ganz oben auch die Jagd nach den legendären, damals noch kaum bekannten Menschenaffen - den Gorillas. Sie dringen auf einem Fluss tief ins Landesinnere vor. An einem Gebirge sollen sie dort über dem Urwaldboden, leben - die Gorillas.
Danach geht es in Richtung Südamerika. Hier gilt es einen Silberschatz zu übergeben - ein Unterfangen, bei dem sie über den Tisch gezogen werden. Da heißt es flux, Staatsoberhäupter zu kidnappen, um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Mit dabei immer der Mann, der unseren Ich-Erzähler aus seiner Londoner Haft befreite - ein Abgesandter der mysteriösen indischen Geheimgesellschaft; ein Mann, der immer wieder in einen todesähnlichen Schlaf fällt, der mehr Geheimnisse mit sich herumträgt, als ein ganzer Staat zu verheimlichen sucht, ein Medium, das ein ums andere Mal auf gar unbegreifliche Art und Weise Hinweise und Prophezeiungen erhält, die unsere Crew und das Schiff vor Unbill schützen…
Ganz ähnlich wie in „Träume auf dickem Papier“ von Jörg Weigand in seinem gleichnamigen Sekundärwerk über die Leihbücher dies so treffend nannte, erfüllten die Kolportage-Lieferungen im deutschsprachigen Raum eine ganz wichtige Aufgabe. Sie boten ihren Leserinnen und Lesern - erstaunlicherweise wurden die Lieferungsromane von beiden Geschlechtern ungeduldig erwartet und dann verschlungen, bevor man sie zur Zweit-, Dritt- oder Viertlektüre weitergab - die willkommene Möglichkeit, zumindest in Gedanken das oftmals triste Heim zu verlassen. Statt dem kargen Hinterhof, der harten, langen Arbeit und den schlicht nicht vorhandenen Perspektiven auf ein besseres Dasein, entführten sie ihre Rezipienten in ferne Länder, zu anderen Kulturen und auf farbenprächtige Abenteuer. Hier konnten sie alle, ob das Hausmädchen oder der Arbeiter, der Bauer wie der Soldat, eine Auszeit vom allzu tristen Alltag nehmen und Gegenden kennenlernen und bereisen, in die sie nie im Leben wirklich kommen würden.
Hier war Robert Kraft natürlich auch dank seiner eigenen Erfahrung als Seemann, der die Weltmeere befahren, exotische Länder - zumindest die Häfen dieser - besucht und fremde Völker kennengelernt hat, der ideale Mittler. Er konnte aus seinem Erfahrungsschatz zehren, seine Leser in die fernsten Gestade entführen und die dortigen Zustände - mehr oder minder akkurat - darstellen. Ob er ins Landesinnere vorgedrungen ist, ob er die beschrieben Völkerstämme wirklich näher kennengelernt hat oder sich alles aus Büchern oder seiner Vorstellungskraft angeeignet hat mag dahinstehen - faszinierende, spannende Unterhaltung, das war sein Metier. Dabei ist seine Darstellung der anderen Völker mittlerweile natürlich überholt, eben immer ein Zeitzeugnis, wie damals gedacht und gehandelt wurde.
Dessen ungeachtet lesen sich seine Texte heute noch fast genauso packend wie damals, tauchten vor meinem inneren Auge die beschriebenen Landschaften und Figuren auf - nicht das Schlechteste, was man über einen Autor und sein Werk nach über 100 Jahren sagen kann, oder?