Robert Kraft: Wir Seezigeuner 1 (Buch)

Robert Kraft
Wir Seezigeuner 1
Kapitel 1-43
Titelbild: Adolf Ward
Verlag Dieter von Reeken, 2023, Hardcover, 540 Seiten, 35,00 EUR

Rezension von Carsten Kuhr

Die Geschichte beginnt mit einer Schiffshavarie. 1893 läuft an der Küste Amerikas ein Dampfer auf ein Riff, bei dem auch ein begüterter Passagier zu Tode kommt. Dessen Witwe errichtet aus eigenen Mitteln einen Leuchtturm, um den sich in nächsten zehn Jahre ein alter Seebär, Old Dick genannt, kümmert. Nach dessen Ableben findet die Witwe ein Manuskript, in dem der Leuchtturmwärter, Richard Jansen mit richtigem Namen, sein abenteuerliches Leben festgehalten hat. Dies sind seine Memoiren.

Wir lernen unseren Erzähler kennen, wie er just 1859 als Steuermann dank des Streiks der Hafenarbeiter ohne Heuer in London gestrandet ist. Ein Spaziergang an seinem 24. Geburtstag führt ihn, verfolgt von einem wilden Ochsen, in das weitläufige Anwesen einer jungen Witwe. Einst die Erbin eines Millionenvermögens - ihrem Vater gehörten fast sämtliche Ländereien des späteren Chicagos - rettet er das Leben.

Als er erfährt, dass diese aufgrund der strengen Adelsgesetze England nach dem Tod ihres verschwendungssüchtigen Gatten weder heiraten noch englischen Boden verlassen darf, weil sonst ihr Vermögen an die intrigante, gierige Verwandtschaft ihres verblichenen Ehemanns geht, ist er zurecht empört.

Zwischen den so Ungleichen entwickelt sich schnell eine Beziehung, und eine Lösung der juristischen Fallstricke ist auch bald aufgetan - schließlich ist jedes Schiff, das unter der Flagge Englands zu See unterwegs ist, de jure englischer Boden.

Dass die gierigen Verwandten die sicher geglaubten Reichtümer nicht so einfach aufgeben, dass sie Marodeure anheuern, die die „Sturmbrau“t und ihre Mannschaft verfolgen und bedrängen, kann man sich vorstellen.

So geht es hinaus in die Weiten der Welt. Immer verfolgt von missgünstigen Verbrechern macht sich das Paar auf, die Welt in all ihrer Exotik zu erkunden - und stößt letztlich auf ein riesiges Schiff, auf dem die Freiheit und Lust gefrönt wird; ein metallenes Ungeheuer, das der Kapitän wieder seetüchtig bekommen soll…


Der neue, alte Kolportage-Roman aus der Feder des einstigen Seebären Robert Kraft beginnt verhalten. Wir lernen unsere Hauptfiguren, zu denen sich später weitere Freunde, Verbündete und Untergebene gesellen, kennen, können in der Figur des Richard Jansen unschwer eine Reminiszenz, vielleicht gar ein alter Ego des Verfassers erkennen.

Überraschend für mich war die Tatsache, dass anders als in seinen sonstigen im Verlag Dieter von Reeken im Neusatz aufgelegten Werken, dieses Mal das Thema Sexualität nicht ausgespart wird. Gerade zu Beginn des Textes wird hier die Lebenslust des Erzählers durchaus angedeutet, drückt unser Seemann den Mädchen und Frauen an Land durchaus gerne einen Kuss auf den Mund (und angedeutet auch mehr), auch später ist unser Kapitän kein Kind von Traurigkeit.

Nach dem behutsamen, fast schön geruhsamen Beginn, in dem Kraft uns die Situation schildert und seine Figuren platziert, nimmt der Plot in der Folge dann Fahrt auf. Hier greift der Verfasser - natürlich - wieder ausgiebig auf seine eigene Erfahrungen als Seefahrer zurück, erwartet uns Windjammer-Romantik (wenn der Schlot denn umgelegt ist), gibt es die bekannten Begegnungen mit enternden Freibeutern, Havarien, den Besuch unbekannter Gestade und jede Menge Geheimnisse und Gefahren. Ein echter Robert Kraft eben, wobei übernatürliche Sequenzen, wenn überhaupt, eher im Hintergrund ablaufen und zumeist dann rational aufgeklärt werden.

Dass der Roman im Karl May Verlag, bearbeitet und gekürzt, in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts bereits einmal im Neusatz aufgelegt wurde sei erwähnt, wobei diese kleinoktave Ausgabe antiquarisch kaum zu bekommen ist und auch die der DvR-Edition beigegebenen Original-Illustrationen vermissen lässt.