9603 Kilometer - Zwei Kinder auf der Flucht (Comic)

9603 Kilometer - Zwei Kinder auf der Flucht
(9603 kilomètres: L'Odyssée de deux enfants, 2020)
Text: Stephane Marchetti
Titelbild und Zeichnungen: Cyrille Pomés
Übersetzung: Swantje Baumgart
Cross Cult, 2023, Hardcover, 128 Seiten, 30,00 EUR

Rezension von Christel Scheja

Mitte der 2010er Jahre sorgten die großen „Flüchtlingsströme“ aus dem Nahen Osten für viele Konflikte in Europa und politisch auch für einen Rechtsrutsch. Manche sahen eine Gefahr in den Menschen, die aus Syrien und Afghanistan kamen; es interessierte sie nicht, was diese Menschen verloren hatten. Autoren, Dokumentarfilmer und nun auch Comic-Künstler versuchen mit ihren Geschichten, daran zu erinnern. „9603 Kilometer - Zwei Kinder auf der Flucht“ mag vielleicht fiktiv sein, basiert aber auf den vielen Erzählungen von Kindern, die sich Stephane Marcetti angehört hat.

 

Adil verlebt eine relativ glückliche Kindheit in Khost im Südosten Afghanistans, bis sein Vater überraschend stirbt. Zwar heiratet sein Onkel seine Mutter, aber er gibt den Jungen auch in die Hände eines fanatischen Taliban. Als Adil sich weigert, zum Selbstmord-Attentäter zu werden, bleiben ihm und seinem zwei Jahre älteren Cousin Shafi nur die Flucht aus dem Land. Sie sollen dem Willen des Onkels nach nach London gehen, wo bereits sein älterer Sohn lebt.

Die beiden Jungen, nun zwölf und vierzehn Jahre alt, machen sich auf eine 9603 Kilometer lange Reise, auf der sie nicht nur Schleppern ausgeliefert sind und viel Leid erfahren, sondern auch in Lagern ausharren müssen, in denen man ihnen das Gefühl gibt, nicht gewollt zu sein.


Die Geschichte ist stimmungsvoll von Cyrille Pomés in Szene gesetzt. Erdige und dunkle Farben geben den entsprechenden Stationen das richtige Licht. Und sie zeigt anfangs das ganz alltägliche Leben der Jungen in Afghanistan, aber auch wie schnell die Kindheit zu Ende gehen kann, weil der Krieg niemals fern ist.

Die Handlung bleibt ganz bei Adil, der verzweifelt versucht, er selbst zu bleiben, auch wenn das fanatische Taliban nicht zulassen wollen. Aber er passt sich den Gegebenheiten an und lernt zu überleben. Später schließt sich ihm und Shafi auch noch der etwas ältere Doud an, der gerade für den Jüngeren zu einer Art großer Bruder wird.

Die Künstler versuchen die Grausamkeit und Gewalt, denen die beiden Kinder ausgesetzt sind, so realistisch wie möglich darzustellen, aber es auch nicht zu übertreiben. Sie konzentrieren sich ganz auf das Kind, das durch die Flucht langsam immer erwachsener wird und mit aller Kraft zu überleben lernt, auch wenn das manchmal auf Kosten anderer geht.

Die einzelnen Stationen werden glaubwürdig, wenn auch nicht wertend in Szene gesetzt, zeigen die Flucht mit den Schleusern und auch das Leben in den Lagern ganz aus der Sicht der Leidtragenden, die auch Momente des Glücks erleben dürfen, auch wenn es natürlich im Großen und Ganzen düster für sie aussieht. Denn mehr und mehr verlieren sie ihren Halt, werden sie entwurzelt und wissen schon bald nicht mehr ein noch aus, denn die geschlagenen Wunden sind übermächtig. Das deutet auch das Ende an.

Wer sich ganz auf die Bilder und Szenen einlässt, kann tief beeindruckt werden - man muss aber bereit sein, sich mit dem Thema zu beschäftigen und es offen zu sehen. Letztendlich gibt der Einzelband die dunklen Seite des Krieges so wieder, wie man sie im Westen nicht sehen kann und vielleicht auch nicht möchte.

„9603 Kilometer - Zwei Kinder auf der Flucht“ ist eine einfühlsame und auf Tatsachenberichten beruhende Geschichte, deren Helden Adil und Shafi zwar erfunden sind, diese aber durchaus für die vielen tausend junger Flüchtlinge stehen, die in den letzten zehn Jahren die gefahrvolle und bittere Reise nach Europa gewagt haben.