Michael Helming: Die vorläufig letzte Fassung der Gegenwart (Buch)

Michael Helming
Die vorläufig letzte Fassung der Gegenwart
catware.net, 2010, Taschenbuch, 120 Seiten, 9,80 EUR

Rezension von Matthias Hesse

Als während der Dreharbeiten zu „Der Name der Rose“ der wahre zweite Band von Aristoteles' Poetik auftaucht, ganz unspektakulär gefunden in der Argentinischen Nationalbibliothek, muss das Ding Seite für Seite verspeist werden, um wieder aus der Welt zu verschwinden. Doch in der skurrilen Gegenwart, wie Michael Helming sie in seinen Erzählungen entwirft, ist das gar nicht mal so ungewöhnlich. So berichten die manchmal skizzenhaft kurzen, niemals ausufernden Storys in „Die vorläufig letzte Fassung der Gegenwart“ auch von Außerirdischen, die Frühstück ans Bett servieren, während ihre Existenz bezweifelt werden darf, von einem einzigen Sandkorn, das durch eine Zeitschleife für alle Sandstrände der Welt ausreicht, von Finanztransaktionen, die das Rätsel des Seins auf überraschend pragmatische Weise erklären und von einem märchenhaften Männlein, das beim Gegenüber paranormale Fähigkeiten simuliert, um sich selbst zu täuschen.

Dabei ist Helming kein lupenreiner Genre-Autor. Er arbeitet für das Theater, verfasst Essays für Philosophie- und Kunstzeitschriften. Doch seine ironische Skepsis gegenüber dem Augenschein, sei es in Alltag oder Wissenschaft, zieht sich leitmotivisch durch seine Geschichten und bringt staunenswerte Ideen zutage. Eine gewisse Lust am Theoretisieren, an Verweisen auf theoretische Diskurse steht dabei einer sinnlichen, leichten und vor allem witzigen Literatur nicht im Wege. Seine Prosa-Miniaturen erinnern zuweilen an Kafka, Borges oder Lem, lesen sich aber sehr viel moderner, von norddeutsch trockenem Humor durchzogen.
 
In der Geschichte „Reisende“ nickt ein namenloser Vertreter über einem Buch ein, das jemand in seinem Hotelzimmer vergessen hat und begegnet sich in dessen Protagonisten selbst, bevor er sich in einem labyrintischen Albraum verrennt. „Sobald es hell wird, wird er für all das bezahlen müssen“, heißt es im letzten Satz. Hier wird exemplarisch, was das Buch lesenswert macht: Die Grenze zwischen Gedankenspiel und Wirklichkeit mag unscharf sein - folgenlos bleibt das meist zufällige Übertreten dieser Linie nie.