Dmitry Glukhovsky: Geschichten aus der Heimat (Buch)

Dmitry Glukhovsky
Geschichten aus der Heimat
Übersetzung: Christiane Pöhlmann, Franziska Zwerg und M. David Drevs
Heyne, 2022, Hardcover, 446 Seiten, 24,00 EUR

Rezension von Gunther Barnewald

Das Buch enthält 20 Kurzgeschichten des russischen Autors (größtenteils aus den Jahren 2010 und 2012, nur drei „neuere“) und ein aktuelles Vorwort. Glukhovsky, Autor des Weltbestsellers „Metro 2033“, wurde nach seiner scharfen Verurteilung des russischen Angriffskrieges in Russland zur Fahndung ausgeschrieben und hat (natürlich) das Land inzwischen längst verlassen.

In seinen Kurzgeschichten setzt er sich kritisch, satirisch, schwarzhumorig und teilweise sehr zynisch-ätzend mit dem „System Putin“ in seiner Heimat auseinander.

 

So bekommt ein Kamerateam in „Die wichtigste Nachricht“ das Auftauchen eines gewaltigen UFOs über Moskau vor die Kamera. Die Aliens haben aber nur kurz Zeit, den Menschen eine wichtige Botschaft zu vermitteln, da der Energieverbrauch auf ihrer Seite so hoch ist, dass sie erst in 10.000 Jahren erneut erscheinen könnten. Aber der TV-Sender muss erst so viele wichtige Auftritte des Präsidenten und auch des Premierministers senden, um deren Eitelkeit zu befriedigen, dass für die Botschaft der Aliens gar keine Zeit mehr bleibt und diese wieder verschwinden, bevor sie sich geäußert haben können.

In „Ein Jahr wie drei“ wird nebenher die geringe Lebenserwartung der Russen thematisiert, die durch Misswirtschaft und Schlamperei immer weiter sinkt, während Rettungssanitäter Notfälle dadurch krepieren lassen, dass sie sich ewig Zeit lassen, bis sie bei den Schwerstkranken eintreffen.

Um der Bevölkerung neuen Auftrieb zu geben, hat in „Am Boden“ ein Wissenschaftler heimlich beschlossen, der billigsten Wodka-Sorte kleine Nanomaschinen beizugeben, welche die ärgsten Säufer und Proleten in intelligente, rational handelnde Menschen verwandeln sollen. Eine ungeheuerliche Gefährdung des aktuellen Systems, welches zusammenzubrechen droht.

Und während sich in „Telefonjustiz“ zeigt, dass Richter nur vom System programmierte Roboter sind, die kalt staatlich vorgegebene Urteile fällen, bis jemand einer Maschine Menschlichkeit einprogrammiert, hat in „Schwefel“ eine Ehefrau der freudlosen, von Industriegiften zerstörten Existenz ihres brutalen Ehemanns ein grausiges Ende gesetzt.

In „Die Offenbarung“ träumt ein kleiner russischer Niemand von seinem kometenhaften Aufstieg durch Bestechlichkeit und Korruption, während in „Utopia“ ein russischer Bonze in Paris glaubt, sich genauso brutal und entwürdigend verhalten zu können wie in der Heimat, weil er dort reich und mächtig ist.

„Die Erscheinung“ berichtet sogar von der unbefleckten Empfängnis einiger Frauen in einer Speiseölfabrik, da Putin seine Liebe zu Russland hat plakatieren lassen und sich mit der russisch-orthodoxen Kirche verbündet hat, was zu landesweiten Schwangerschaften durch seine göttliche Aura führt.


Diese und weitere bitterböse Kurzgeschichten enthält der vorliegende Episodenroman, in dem manchmal Protagonisten oder Handlungsteile einzelner Geschichten in anderen Storys erneut auftauchen. So wie in der Geschichte des tadschikischen Bauarbeiters, dessen tödlicher Unfall auf der Baustelle fast schon eingeplant ist, betreibt sein Chef doch ein noch viel lukrativeres Geschäft mit Organhandel („Alles hat seinen Preis“). Das Schicksal des armen Bauarbeiters wird in einer anderen Story wieder aufgegriffen.

Und während ein Forscher den Zugang zur Hölle entdeckt, der von Gazprom aber bereits vor längerer Zeit erfolgreich wirtschaftlich erschlossen wurde („From Hell“, in der auch das propagandistische Heile-Welt-Fernsehen der Putin-Ära kurz thematisiert wird), entschließt sich ein Regierungsbeamter zur Selbstjustiz gegen alle korrupten Kleptokraten („Eine gute Sache“).

Bitter stellt der Autor in seinem Vorwort fest: „...Russland ist nie eine Demokratie gewesen und ist heute auch keine totalitäre Diktatur. In Wahrheit ist mein Land in den dreißig Jahren seit dem Zerfall der Sowjetunion stets eine durch und durch korrupte Bananenrepublik - vergleichbar mit gewissen lateinamerikanischen oder afrikanischen Staaten - gewesen und bis heute geblieben, nur dass es statt Bananen Öl und Gas verkauft und damit des Rest der Welt erpresst. Die Leute, die durch Zufall ans Ruder der Macht gekommen sind, allesamt Versager und absolutes Mittelmaß, haben sich am wunden Euter dieser einst so bedeutenden Weltmacht festgekrallt und sie bis auf den letzten Tropfen gemolken…“ (Seite 9).

Und diesen verachtenswerten Egoisten und Kleptokraten setzt Glukhovsky mit seinen satirischen Kurzgeschichten ein beachtenswertes Denkmal.

Wer wissen möchte, was in Russland falsch läuft, der wird hier, und zwar nicht nur zwischen den Zeilen, fündig, denn der Autor nimmt kein Blatt vor den Mund, gilt bestimmt mittlerweile in seiner Heimat als einer der „gemeinsten, niederträchtigsten und verleumderischsten Nestbeschmutzer“ aller Zeiten.

Ein grandioses und virtuoses Buch, eine Abrechnung mit den korrupten Mächtigen, den Narzissten und Gierigen in seinem Land, die Russland und seinen Ruf gnadenlos zugrunde richten in ihrer Maßlosigkeit, ihrem Hass, Neid und ihrer Missgunst!