Visionarium 3: Zauber und Fluch (Buch)
- Details
- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Dienstag, 19. April 2022 16:43
Visionarium 3
Zauber und Fluch
Herausgeber: Dr. Nachstrom
Titelbild: Jörg Vogeltanz
Innenillustrationen: Benny Pamp, Martin Amschl, Jörg Vogeltanz
Edition Gwydion, 2014, Taschenbuch, 148 Seiten, 7,98 EUR (auch als eBook erhältlich)
Rezension von Elmar Huber
„Obwohl ihre Stimme mit den Jahren zu einem heiseren Krächzen verschlissen war, hingen wir gebannt an ihren strichdünnen, von Falten zerschnittenen Lippen, wenn sie von den „Daimonen“ erzählte. [...] Bei all dem wagten wir kaum, mir den Augen zu blinzeln, aus Angst, eine böse Präsenz könne bei der kleinsten Regung auf uns aufmerksam werden.“ (Karin Elisabeth: „Wechselbalg“)
Graham Masterton: „Betrachter“
Schon ihr ganzes Leben verbringt Fiona abgeschottet von der Außenwelt allein mit ihrer Mutter. Fern von möglichen Betrachtern, die ihr, ob ihrer unglaublichen Schönheit, aus reinem Neid wehtun würden. Als Fiona jedoch eines Tages einen Blick in einen Spiegel wirft, sieht sie dort nur eine missgestaltete Kreatur. Und plötzlich ergeben die Worte ihrer Mutter - „die Schönheit liegt im Auge des Betrachters“ - einen Sinn. Jedes Lebewesen, das bisher einen Blick auf sie werfen konnte, hat mit seinen Augen einen Teil von Fionas Schönheit gestohlen. So fasst Fiona einen Plan, sich ihre Schönheit aus den Augen der Betrachter zurückzuholen.
Karin Elisabeth: „Wechselbalg“
Ein nicht standesgemäßes Abenteuer der Kaufmannstochter Zuzanna Svoboda bleibt nicht ohne Folgen. Das Kind wird heimlich und angeblich tot geboren. Ebenso spurlos verschwindet der Kindsvater, und Zuzanna ehelicht schließlich einen Bekannten ihres Vaters. Auch diese arrangierte Verbindung bleibt nicht kinderlos, sodass Zuzanna glücklichen Tagen entgegensehen könnte, würde sie nicht von unheilvollen Träumen und Visionen heimgesucht werden, die in Verbindung mit ihrem Erstgeborenen stehen.
Philipp Schaab: „Meine Hoffnung“
Am Ufer des mysteriösen Nebelsees, um den sich die unheimlichen Geschichten seiner Anwohner ranken, lernt der Protagonist die geheimnisvolle und faszinierende Rusalka kennen und lieben. Ohne Argwohn ist er bereit, ihr in die See zu folgen. Und noch viel weiter.
„Fiona blieb, wo sie war. Sie wagte kaum zu atmen. Sie wusste, dass sie nicht die Stufen hinunter auf den Rasen gehen konnte, um den Tennisball aufzuheben, denn dann würden Robin und Caroline sie sehen und merken, wie schön sie war. Und eh sie sich’s versah, würden sie über den Zaun klettern, mit Küchenmessern oder zerbrochenen Flaschen oder Bleiche oder wer weiß was sonst noch, um ihr Gesicht zu zerstören.“ (Graham Masterton: „Betrachter“)
Mit dieser dritten Ausgabe des „Absinth-Punk“-Magazins „Visionarium“ beweisen Herausgeber Dr. Nachtstrom und Chefredakteur Bernhard Reicher, dass es sich bei dem Projekt nicht um eine Eintagsfliege handelt und dass ihre Reputation inzwischen sogar in good old England vernommen wurde. Hat doch kein Geringerer als Graham Masterton („Der Manitou“) den Visionären eine Kurzgeschichte zur Verfügung gestellt, die hier als weltweite Erstveröffentlichung abgedruckt ist.
Obwohl es sich bei „Betrachter“ im Grunde ‚nur‘ um eine Variation seiner Kurzgeschichte „Eric, die Pastete“ (zum Beispiel in „Bestialisch“, Festa) handelt, verfehlt dieser pointiert komponierte Albtraum seine bestürzende Wirkung nicht. Die Kombination aus arglos-naiver Weltsicht, geboren aus den gutgemeinten Mantras mütterlicher Behütung, und der ekelhaften Konsequenz der kindlich-logischen Schlüsse packt den Leser gnadenlos.
Und doch gelingt es den Jungautoren Karin Elisabeth und Phillip Schaab, gegen diesen Altmeister zumindest nicht abzufallen. Karin Elisabeth beschwört mit „Wechselbalg“ in Stil und Inhalt die Hochzeit der Dunklen Romantik herauf, während Phillip Schaab in „Meine Hoffnung“ das zunächst nixenhaft-lovecraftianisch erscheinende Ambiente weiterführt und unter Wasser Raum und Zeit ungeahnt weit ausdehnt.
Ergänzt werden die Geschichten jeweils von einer passenden Grafik verschiedener Künstler
Im Sekundärteil des Magazins rezensiert Bernhard Reicher den jüngst in einer vom Filmarchiv Austria restaurierten Fassung auf einer üppig ausgestatteten DVD erschienenen Stummfilmklassiker „Orlac’s Hände“. Ein namhafter Pianist, dessen Hände bei einem Unfall irreparabel beschädigt wurden, bekommt hier die Gliedmaßen eines Mörders transplantiert, die auch sein Gemüt merklich verändern. Als Ergänzung dazu stand Thomas Ballhausen, Leiter des Studienzentrums im Filmarchiv Austria, Rede und Antwort über das Projekt.
Dr. Nachtstrom spricht mit Karlheinz Schlögl, seines Zeichens (einer der beiden) Herausgeber beim Berliner Golkonda Verlag, über das Entstehen, die Philosophie und die Zukunftspläne des kleinen, aber feinen Verlags.
Als Schmankerl für alle Fans des magischen Realismus‘ britischer Ausprägung steuert Bernhard Reicher ein Essay über die ‚magischen‘ Bücher bei, die in der britischen Hauptstadt spielen, wie zum Beispiel Mike Shevdons „Courts oft he Feyre“- und Ben Aaronovichs „Die Flüsse von London“-Serien. Aber auch diverse Einzelromane finden Erwähnungen, ergänzt von einem Interview mit Mike Shevdon. Hier bekommt man Lust, sich sofort alle Bücher der vorgestellten Serien zuzulegen oder nochmals seine „Hellblazer“-Sammlung zu sichten.
Was das Erscheinungsbild angeht, setzt „Visionarium“ Maßstäbe in Sachen Self-Publisher-Veröffentlichungen. Hier stimmt alles, und einige Verlage könnten sich ein Beispiel an dieser gewissenhaften Bearbeitung nehmen.
Für das Cover hat Jörg Vogeltanz wieder eine herrlich mysteriöse Grafik geschaffen und diese in das brillante Art Deco-Reihen-Layout eingesetzt. Eigentlich viel zu schade, um nur als kindle-Ausgabe gelesen zu werden.
„Visionarium“ 3 festigt weiter den guten Ruf der österreichischen Phantastik-Kollaborateure. Beispielloses Phantastik-Magazin, bei dem der Inhalt und die erstklassige Optik Hand in Hand gehen.