Mögliche Geschichten (Comic)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Montag, 20. Dezember 2021 16:42
Mögliche Geschichten
(Likely Stories, 2018)
Vorlage: Neil Gaiman
Adaption & Zeichnungen: Mark Buckingham
Übersetzung: Jens R. Nielsen
Dantes, 2021, Hardcover, 84 Seiten, 20,00 EUR
Rezension von Elmar Huber
Nach 23 Uhr, Sperrstunde, gibt es für die englischen Gentlemen nur noch die Möglichkeit, vom schließenden Pub in einen nicht öffentlichen Herrenclub umzuziehen, um weiter zu trinken. Im Diogenes Club, nicht zu verwechseln mit dem distinguierten Herrenclub von Sherlocks Holmes‘ Bruder Mycroft, treffen die unterschiedlichsten Charaktere aufeinander. Durch die Augen eines Stammgastes wird der Leser Teil dieser Runde und bekommt dort die unterschiedlichsten Geschichten erzählt.
Der unsichere Bankangestellte Simon Powers, der sexuell abstinent lebt, hat sich doch irgendwie eine unspezifische Geschlechtskrankheit eingefangen. Die Beschwerden wachsen sich aus, greifen auf die Psyche über und lassen Simon verändert zurück („Fremdartige Teile“).
Eddie Barrow, ein ehemals gutaussehender Frauenheld, erinnert heute eher an einen lebenden Toten. Er erzählt von seiner Nachbarin, für die frisches, blutiges Fleisch ein wahrer Jungbrunnen ist („Esser und Fütterer“).
Ein Gast an der Bar berichtet vom Kauf seines ersten „Penthouse“-Magazins und wie er sofort dem neunzehnjährigen Model Charlotte verfallen ist. Eine Obsession, die mehr oder weniger sein Leben bestimmt hat. Obwohl alle Anstrengungen, sie ausfindig zu machen, erfolglos bleiben. Noch einige Male sieht er sie in den folgenden Jahren und Jahrzehnten unter verschiedenen Namen im „Penthouse“, und sie ist immer neunzehn („Auf das Mädchen hoffen“).
Der Erzähler selbst erinnert sich an seine Kindheit und wie er mit seinen nachmittäglichen Kameraden ein bizarres Spielhaus im Garten einer verlassenen Villa entdeckt hat. Ein Haus, das seine Freunde betreten, aber nie mehr verlassen haben („Closing Time“).
„Mögliche Geschichten“ ist eine Art Nebenprodukt der Fernsehserie „Neil Gaimans Likely Stories“, in der eben diese vier Kurzgeschichten adaptiert wurden; weitere Folgen kamen nicht zustande. Für die Comic-Umsetzung zeichnet „Fables“-Autor Mark Buckingham verantwortlich. Er hat die Reihenfolge der Geschichten etwas umgestellt und eine Rahmenhandlung ergänzt, die im Diogenes Club spielt, der eigentlich in nur einer der TV-Episoden vorkommt. So entsteht aus vier Einzel-Erzählungen ein wunderbar geschlossenes Ganzes.
Die Geschichten bieten die typische Art urbane Gaiman-Phantastik, die den Autor seinerzeit, zu Beginn der „Sandman“-Serie, regelrecht in die Herzen der Fans katapultiert hat. Die Sache ist, dass hier eindeutig merkwürdige, wenn nicht gar unmögliche Dinge ablaufen, dies aber auf eine gänzlich unaufgeregte und beinahe nebensächliche, lakonische Art erzählt wird, sodass man manchmal zurückspringen muss, um sich zu vergewissern, was hier gerade tatsächlich passiert. Beispiel: Eine Frau mit einem Embryo in Formalin sitzt in der U-Bahn, und der Erzähler nimmt ihr einfach gegenüber Platz und vertröstet den Leser, dass ihre Geschichte hier nicht weiterverfolgt wird. Szenen und Passagen, die eigentlich schockieren sollten, die man durch die gelassen ruhige Erzählweise aber gar nicht als Fremdkörper wahrnimmt.
Dabei sind die Motive, die Neil Gaiman verwendet, nicht unbedingt neu, und manches wird dem Phantastik-Fan bekannt vorkommen. So ist die Vampir-Variante aus „Esser und Fütterer“ natürlich bekannt, das immerjunge Fotomodell aus „Auf das Mädchen hoffen“ erinnert frappierend an Fritz Leibers „Das Mädchen mit den hungrigen Augen“, und die Anekdote um eine merkwürdige Anhalterin, die am Tor eines Friedhofs abgesetzt werden möchte, bezieht sich auf die moderne Legende der „Ressurection Mary“. Doch das stört gar nicht weiter.
Zeichnerisch wird die nahtlose Einbindung des Phantastischen in den Alltag durch ein stringent rechteckiges und relativ gleichförmiges Panel-Raster realisiert. Hier und da gibt es Close-ups, die die Aufmerksamkeit auf bestimmte Punkte lenken und damit Wirkung erzielen, ohne aus der Seitenstruktur auszubrechen.
Mit „Mögliche Geschichten“ hat sich der Dantes Verlag wieder einen großartigen Band geschnappt, der weder inhaltlich noch technisch hinter Splitter (wo derzeit auch einige Neil-Gaiman-Titel erscheinen) & Co. zurückstehen muss. Im Gegenteil, denn Übersetzer Jens Nielsen liefert im Bonusteil wieder interessante Anmerkungen zur Übersetzung und einige Insider-Informationen.