Neal Stephenson: Snow Crash (Buch)
- Details
- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Samstag, 04. Dezember 2021 11:51
Neal Stephenson
Snow Crash
(Snow Crash, 1992)
Übersetzung: Alexander Weber
Tor, 2021, Paperback, 574 Seiten, 16,99 EUR (auch als eBook erhältlich)
Rezension von Carsten Kuhr
Hiro hat es geschafft. Während viele andere in seinem Alter in Armut und ohne Perspektive vor sich hin vegetieren, sich Drogen reinziehen und versuchen sich vom tristen Alltag abzulenken, hat er einen Job. Im Auftrag der Mafia fährt er Pizza aus. Früher war er einmal Corporal bei den staatlichen Sicherheitskräften - jetzt liefert er in garantiert maximal 30 Minuten die CosaNostra Pizzen aus. Schafft er die garantierte Lieferung nicht, kriecht Onkel Enzo zu Kreuze, geht auf seine Knie und spendiert dem Kunden einen Urlaub in Italien. Vom schuldigen Pizza-Boten hört man nie wieder etwas.
Da man mit einem Job alleine in Südkalifornien nicht überleben kann, betätigt Hiro sich so nebenbei noch als Hacker und arbeitet freiberuflich für die CIA - der aus der Kongressbibliothek und der Regierung hervorgegangenen Datenkrake, bei der man alles finden kann… für einen stolzen Preis, versteht sich. Und er ist im Metaverse unterwegs, der virtuellen Welt, in der immer Nacht herrscht und alle sich in ihren Avataren auf ihre eigene Art vergnügen.
Einen ordnenden Staat gibt es nicht mehr, alles wurde privatisiert, dem Kommerz und dem zügellosen Kapitalismus überlassen. Dass sich die sozialen Unterschiede kaum mehr messen lassen - geschenkt, schließlich brauchen die Firmen immer wieder Nachschub an willigem Fleisch für ihre gefährlichen Jobs.
In der Nacht, in der Hiro seinen Pizzaboten-Job verliert, lernt er die 15jährige Kurierfahrerin Y. T. auf ihrem Skateboard kennen. Sie poont sich an eine Mommybox (Familien-SUV) und liefert für den havarierten Hiro die Pizza fristgerecht aus. Jetzt schuldet ihr sowohl die Mafia als auch Hiro etwas.
Zusammen machen sich die so Ungleichen im Metaverse auf die Suche nach eine geheimnisvollen neuen Droge - Snow Crash, deren Genuss verheerende Folgen nach sich zieht…
Neben Gibsons „Neuromancer“ ist Stephensons „Snow Crash“ schlechthin der bekannteste Cyberpunk-Roman. Tor hat das Werk in einer neuen, zeitgemäßeren Übersetzung jetzt neu aufgelegt und erfüllt damit die Wünsche vieler alter wie neuer Fans.
Es geht um die virtuelle Realität, aber auch um die Darstellung einer dystopischen Zukunft, die beklemmend realistisch und bedrohlich auf uns wirkt. Es geht um die Perspektivlosigkeit der meisten Menschen, um ein sozialmaterielles Gefälle wie ein Niagara-Wasserfall, um die hemmungslose Kommerzialisierung und Profit-Streben der Konzerne und Vereinigungen.
Stephenson macht das sehr geschickt. Immer wieder präsentiert er uns seine rasant aufgezogenen Action-Szenen, zwischen die er dann unauffällig seine inneren Monologe präsentiert, in denen er seine philosophischen Betrachtungen einfließen lässt. Anders als in vielen seiner späteren, mehr als 1000 Seiten umfassenden Romane - die sich kaum mehr lesen lassen - verliert er vorliegend seine Handlung nicht aus dem Visier.
Das, was uns im Roman besonders in seinen Bann zieht, sind zum einen die beschriebenen Zustände in der fiktiven Zukunft, die zwar übersteigert, aber durchaus real wirken, sowie die Darstellung der virtuellen Welt.
Seit der Zeit, in der Stephenson das Werk verfasst hat, ging die Entwicklung im IT-Bereich rasant weiter. Das Web ist aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken, das beschriebene Metaverse gleicht in Vielem dem, was wir aus aktuellen PC-Games kennen und schätzen. Noch hat die Technik das Niveau des Romans nicht ganz erreicht, der Weg dorthin ist aber bereits gepflastert und es ist absehbar, dass wir und in Kürze über Avatare und in immer dezidierter ausgebauten virtuellen Welten bewegen, aufhalten, ja leben werden.
Insoweit beweist dieser Roman die visionäre Kraft Stephensons, die in der neuen, werkgetreuen Übersetzung noch besser rüberkommt.