Natasha Pulley: Der Uhrmacher in der Filigree Street (Buch)

Natasha Pulley
Der Uhrmacher in der Filigree Street
(The Watchmaker of Filigree Street, 2015)
Übersetzung: Jochen Schwarzer
Hobbit Presse, 2021, Hardcover, 448 Seiten, 24,00 EUR (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Irene Salzmann

London, 1883: Nathaniel Steepleton, der sich Thaniel nennt, arbeitet als einfacher Angestellter im Innenministerium. Da die Eltern früh verstorben sind und er seine verwitwete Schwester nebst deren zwei Söhnen finanziell unterstützt, hat er seinen Traum, Konzertpianist zu werden, begraben. Im Telegrafenamt verdient er genug, um die Miete für ein einfaches Zimmer in einer wenig noblen Gegend Londons aufzubringen und der Schwester regelmäßig seine Ersparnisse zu senden.

Eines Tages findet er in seinem Zimmer eine goldene Taschenuhr, die er für ein verfrühtes Geburtstagsgeschenk seiner Schwester hält, doch diese behauptet, damit nichts zu tun zu haben, und ein Obdachloser erwähnt eine fremde Person mit ungewöhnlichen Stiefeln.

Wenige Monate später verüben irische Nationalisten einen Sprengstoffanschlag auf Scotland Yard. Nur weil die Uhr plötzlich Alarm schlägt und sich nicht ausschalten lässt, läuft Thaniel rechtzeitig aus dem Gebäude und überlebt.

Dieser merkwürdige Zufall veranlasst ihn, mit Superintendent Williamson zu sprechen, der ihn auffordert, den Hersteller der Uhr auszuspionieren, denn wenn diese so präzise vor der Explosion warnen konnte, muss der Uhrmacher über Insiderwissen verfügen oder gar selbst der Bombenleger sein. Die Adresse in der Uhr führt Thaniel zu einem kleinen Laden voller Uhren und erstaunlicher mechanischer Spielzeuge - besonders faszinierend ist der Krake Katsu, der wie ein lebendiges Wesen wirkt - in der Filigree Street, der dem liebenswürdigen Japaner Keita Mori gehört.

Der Superintendent braucht für die Öffentlichkeit einen Schuldigen, aber Thaniel, der sich in Moris Gästezimmer einmietet, kann nichts Verdächtiges beobachten und ist von der Aufrichtigkeit seines neuen Freundes überzeugt, obschon er ein Geheimnis erfährt, das ihn zunächst verstört.

Das soll nicht die einzige Veränderung in Thaniels Leben bleiben. Er lernt die burschikose Studentin Grace Carrow kennen, deren Traum, als Physikerin zu forschen, mit Ende des Studienjahres platzt, denn die Familie will sie mit einem Witwer verheiraten, der an dieser Ehe genausowenig interessiert ist wie sie selbst. Weil sie mit Thaniel und Mori in dessen Laden ohne Anstandsdame eine Tasse Tee getrunken hat, gilt sie als kompromittiert. Die daraufhin arrangierte Ehe bietet dem dem jungen Paar die Möglichkeit, das zu bekommen, was sich jeder von ihnen wünscht: Grace bleibt unabhängig und erbt ein Haus, in dem sie ihre Experimente durchführen kann; Thaniel verfügt über die Mittel, seine Schwester zu unterstützen und als Pianist tätig zu sein. Allerdings ist Mori von dieser Entwicklung wenig begeistert, ja, er scheint Grace abzulehnen. Anders als Thaniel begreift sie schnell warum und nutzt ihren wissenschaftlich geschulten Verstand, um eine vermutete Ereigniskette zu unterbrechen.


„Der Uhrmacher in der Filigree Street“ ist Natasha Pulleys Debüt-Roman. Inzwischen liegen drei weitere Bände von ihr vor, von denen einer das Schicksal der hier vorgestellten Protagonisten aufgreift und wenigstens ein weiterer in derselben viktorianischen Parallelwelt spielt.

Die Hauptfigur ist Thaniel Steepleton, obgleich er einige Perspektiven-Anteile an Grace Carrow abtreten muss, die zu Beginn, ihrer Situation geschuldet - seinerzeit mussten sich Studentinnen mit eingeschränkten Möglichkeiten bescheiden -, etwas im Hintergrund bleibt. Ihre Rolle erscheint daher zunächst vage und gemäß dem heutigen Zeitgeist feministisch angehaucht, was teilweise hinten runterfällt beziehungsweise das gängige Klischee nicht erfüllt, weil die Figur emanzipierte Frauen kritisiert. Das läuft, bis Grace Thaniel kennenlernt, eine Zweckehe anstrebt, die dann doch nicht völlig frei ist von Gefühlen, und ganz nebenbei durch einen ihrer Bekannten Moris Hintergrund unterfüttert. Der Dritte im Bund ist Keita Mori, der zunächst als etwas älterer und eigentümlicher, aber dennoch freundlicher Geschäftsmann auftritt, schließlich sein Geheimnis teilt und dadurch der Geschichte eine völlig neue und phantastische Wende gibt.

Die zweite und persönliche Überraschung ist eigentlich keine mehr, da sich dieser Aspekt längst in den vergangenen Jahren literarisch etabliert hat - vielleicht nicht bei der Mehrheit der Verlage in allen ‚Details‘, doch zumindest per politisch korrekter Quote. Infolgedessen bleibt alles romantisch und auch für jüngere Fantasy-Leser geeignet.

Das alles ist eingebettet in das stimmungsvolle Ambiente des viktorianischen Zeitalters, das viele Steampunk-Romane als Kulisse gewählt haben. Es gelingt der Autorin, die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten abzubilden: die mit Titel und/oder Vermögen in hohen Positionen auf der einen, die einfachen/(ver)arm(t)en Beamten, Angestellten und Arbeiter auf der anderen Seite, dazu die Ausreißer, die sich trotzdem eine Existenz aufbauen konnten oder gescheitert und im Armenhaus oder der Obdachlosigkeit gelandet sind. Hinzu kommen Rebell(in)en wie Grace, die in dem Kontext gerade zum Schluss leider nur wie eine Identifikations-Quotenfrau wirkt, obwohl sie Wissen erwirbt, trotz vieler Widrigkeiten eigenständig arbeitet, Leistung erbringt (vergleichbar Marie Curie) und gerade das Gezeter (und Thaniel) am Ende nicht nötig gehabt hätte.

In der Summe hat Natasha Pulley einen eher stillen, romantischen und gerade in seiner Ruhe spannenden Roman geschaffen mit sympathischen Figuren, die ganz die progressiven Kinder ihrer Zeit sind, soweit sie können, den Fortschritt bewundern, bejahen, an ihm teilnehmen, ihn vorantreiben. Das Gemenge aus steifem viktorianischem Zeitalter und den nicht minder strengen gesellschaftlichen Regeln Japans (man meint, als Kulisse eine Mischung aus „Sherlock Holmes“ und „Rurouni Kenshin“ vor sich zu haben) bezaubert und macht Lust auf Mehr.

Infolgedessen fragt man sich, was sich die Autorin wohl hat einfallen lassen für ihre Fortsetzung und etwaigen weiteren Büchern in diesem Universum, nachdem doch wesentliche Geheimnisse offenliegen. Man darf also gespannt sein, was da noch kommen mag!