Thomas Finn: Weißer Schrecken (Buch)

Thomas Finn
Weißer Schrecken
Piper, 2010, Taschenbuch, 490 Seiten, 9,95 EUR, ISBN 978-3-492-26759-5

Von Gunther Barnewald

„Weißer Schrecken“ ist ein Horrorthriller, der nicht umsonst mit der Zeile „Der ultimative Thriller für alle Stephen-King-Fans!” beworben wird, denn tatsächlich erinnert die Handlung stark an Kings Bestseller „Es“. Hier wie dort kehrt ein ehemaliger Schüler in seine Heimatstadt zurück, wo er dereinst Schreckliches erlebt hatte, um sich erneut dem Grauen zu stellen.

Andreas Meyenberg ist im idyllischen (und fiktiven) Perchtal nahe Berchtesgaden aufgewachsen. Sein Vater ist nie zu Hause, seine Mutter hat sich kurz nach seiner Geburt erschossen, ohne dass der Junge je erfahren hat, wie es dazu kam. Die gleichaltrigen Freunde von Andreas sind ebenfalls Außenseiter, denn Roberts Mutter ist Alkoholikerin, der Vater ist längst abgehauen. Die Eltern der eineiigen Zwillinge Elke und Miriam sind religiöse Spinner, und Niklas Mutter hat diesen dereinst versucht mit einem Kissen zu ersticken, als der Junge ca. 9 Jahre alt gewesen ist, nimmt heute Tabletten und stopft zusammen mit ihrem Mann, dem Bäckermeister, den Jungen so voll mit Süßigkeiten, dass er deutliches Übergewicht hat.

Im Jahr 1994 sind die fünf Jugendlichen 15 Jahre alt. Es ist kurz vor Nikolaus, als Andreas und die anderen bei einem Eishockeyspiel auf einem zugefrorenen See die Leiche eines erfrorenen Mädchens finden, welche den Zwillingen wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Zuerst vermuten die fünf, dass Elke und Miriam in Wirklichkeit Drillinge gewesen sind, von ihrer Schwester aber nie erfahren haben. Schnell merken sie jedoch, dass die Wahrheit viel unheimlicher zu sein scheint, denn alle 16 Jahre verschwinden Kinder in Perchtal auf Nimmerwiedersehen und 1978 sogar fünf Stück auf einmal, alles ältere Geschwister der fünf, von denen sie nie Kenntnis hatten. Auf einem alten Bild erkennen die Jugendlichen: Die Verschwundenen glichen ihnen wie ein Ei dem anderen.

Als dann der alte Pfarrer am Nikolausabend mit den Jugendlichen eine Nachtwanderung unternehmen will, wird den fünf schnell klar, dass ihnen Lebensgefahr droht, zumal die Legenden der Umgegend von einem bösen Knecht Ruprecht künden, der Kinder für immer mit sich nimmt, um sie zu fressen...

Glaubhaft entwickelte Charaktere in einer atmosphärisch dichten und spannenden Handlung sind die eindeutige Stärke von „Weißer Schrecken“. Logik ist es leider nicht, denn die unwahrscheinlichen Ereignisse, die hier zusammen phantasiert werden, passen nicht wirklich nahtlos ineinander. Zum Glück leidet der Spannungsgehalt darunter nicht und das verkorkste Ende der ansonsten wunderbaren und mit detailreich recherchiertem Hintergrund versehenen Handlung kann dem Buch eher wenig anhaben, wenn es auch bedauerlich ist, dass der Autor sich nicht entschließen konnte, seine Handlungsfäden eindeutig zum Abschluss zu bringen (lauert hier etwa eine der berühmten und oft so unnötigen Fortsetzungen?). Hervorzuheben ist vor allem die Einarbeitung traditioneller Riten und Rituale durch den Autor in die vorliegende Geschichte, aus welcher Thomas Finn wahrlich einen maximalen Gruselfaktor generiert. Der Kinderfresser Knecht Ruprecht und seine in Eis und Schnee begangenen Untaten bilden den bedrohlichen Hintergrund der Erzählung. Schade nur, dass der Großteil der Handlung ausschließlich 1994 spielt und man zu kurz nur über das Jahr 2010 erfährt (und noch bedauerlicher, dass das Jahr 2026 nur als den Leser verärgernde Randnotiz Einführung findet). Auch einzelne krude Handlungselemente (Höhepunkt der Peinlichkeiten ist hier sicherlich eine Hypnosesitzung, in der die blutige Amateurin Miriam ihre Schwester Elke nicht nur aus dem Stegreif in tiefe Trance versetzt, sondern auch noch eine sogenannte Rückführung in deren vorheriges Leben durchführt!) mindern doch die Lesefreude erheblich, abgesehen davon, dass der Roman wohl um 50-80 Seiten zu dick ausgefallen ist (vor allem zwischen Seite 350 und 420 wünscht man sich Kürzungen herbei). Zu den allzu zahlreichen Logiklöcher gehört leider auch, dass der Autor meint als letzten Dreh das „übernatürliche” Wesen als Außerirdischen wegerklären zu müssen, während er die mysteriöse Wiedergeburt der Jugendlichen leider keiner weiteren Ursachenforschung unterzieht. Hier schwankt Thomas Finn zu unentschlossen zwischen den Genre-Grenzen hin und her. Die scheinbare Stärke der Fünf bei der Bekämpfung des übermächtigen Schreckens im Bergwerk ist ebenfalls unerklärlich und wird an den Haaren herbeigezogen. Vieles reimt sich hier nicht recht zusammen, was bedauerlich ist, denn das innovative Thema und die gründliche Ausarbeitung durch den Autor hätten mehr logische Sorgfalt verdient gehabt.

So ist „Weißer Schrecken“ schlussendlich ein guter weil spannender Horrorthriller, der durch sein eigenständiges Thema und die dichte Atmosphäre beeindruckt, der aber durch entsprechende Kürzungen und vor allem logische Straffungen noch erheblich gewonnen hätte, wenn ein mutiger Lektor es gewagt hätte, dem begabten Autor einige Verbesserungen abzuringen.