Joe Hill: Strange Weather (Buch)

Joe Hill
Strange Weather
(Strange Weather, 2017)
Übersetzung: Susanne Picard
Titelbild: Alan Dingman
Festa, 2020, Hardcover, 654 Seiten, 24,99 EUR (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Carsten Kuhr

Über die vergangenen Jahre hat sich eine neue Stimme im Horror-Bereich etabliert. Joe Hill hat, bei uns bislang vornehmlich bei Heyne und Panini, einige aufsehenerregende Romane vorgelegt und seine Leser gefunden. Dies alles ohne einen großen Hinweis darauf, dass er Eltern hat, die auf den Namen King hören. Tabitha und Stephen, um genau zu sein. Hut ab, wenn man hier ganz bewusst versucht, sich vom publizierenden Übervater abzunabeln und auf eigenen Beinen zu stehen. Trotz seiner Erfolge bei Heyne gelang es Frank Festa erneut, einen solch renommierten Autor für seinen Verlag zu verpflichten.

Vier Novellen erwarten den Leser, die die Bandbreite des Schaffens von Hill beweisen.


Gleich zum Auftakt erwartet uns ein gelungenes Beispiel übernatürlichen Horrors. Unser Erzähler, ein gemobbter weil fetter Junge, macht eine wahrlich verstörende Entdeckung. Seine alte Nanny, eine herzensgute Frau, verliert offensichtlich ihren Verstand. Alzheimer denkt man da, wenn sie orientierungslos und barfüßig durch die Gassen läuft, doch dann entdeckt Michael, dass doch etwas an dem Gefasel der verwirrten Dame um einen Polaroid-Mann dran ist - weit mehr sogar, denn dessen Kamera ist nicht von dieser Welt.

Eine etwas andere Version des Themas „Heranwachsender stellt sich der übernatürlichen Gefahr“, aufgepeppt mit Mobbing, Demenz, Pflegeheim-Problematik und der Gefühlslage eines pubertierenden Nerds.


In der nächsten, diesmal nicht phantastischen Novelle nimmt sich der Autor eines heißen Eisens an, es geht - indirekt versteht sich - um die US-Waffenlobby und die diesbezüglich doch oft sehr laxen Gesetze, die es vielen US-Amerikanern erlauben, sich zu bewaffnen. Die Handlung bekommt angesichts der Vorkommnisse des letzten und des laufenden Jahres eine gewisse Dramatik und Aktualität.

Ein junger Farbiger wird 1993 in Florida von einem Polizisten versehentlich niedergeschossen. Zwanzig Jahre später kommt es in einer Shopping Mall zu einem Amoklauf. Dem Sicherheitsbeauftragten gelingt es durch Einsatz seiner Feuerwaffe, die Situation zu klären - wenn man die vielen Toten mal außer Acht lässt. Er wird als Held gefeiert - bis ein Journalist herausfindet, dass die Teile des Puzzles nicht so recht zusammenpassen wollen.


In „Hoch Oben“ begleiten wir einen Fallschirmspringer bei seinem ersten Sprung. Dass er allerdings sechstausend Fuß über der Erde in einer Wolke, die sein Gewicht locker trägt, landet kommt dann sowohl für den Springer wie für den Leser unerwartet. Dass die Wolke versucht, ihm zu gefallen - ein Kleiderschrank, ein „Tischlein deck dich“ (leider mit ungenießbarem Essen) und eine Gespielin wie aus seinen feuchten Träumen (die doch auffallend seine Begleitung beim Jungfernsprung gleicht), steht auf der Haben-Seite - die Soll-Seite…

Atmosphärisch dicht und packend erzählt war diese Novelle das Highlight des Bandes für mich.


Eines Morgens im August türmen sich über Boulder die Wolkenberge. Als sich der Himmel öffnet entlässt dieser nicht etwa, wie zu erwarten wäre, eine Masse Wasser auf die Erde, sondern eine schier unfassbare Menge an scharfen, gut 10 Zentimeter langen Nadeln. Eine wissenschaftliche Erklärung für das Phänomen bleiben die Weißkittel schuldig. So öffnet sich das Tor für alle, die es besser zu wissen glauben - Fundamentalisten, Verrückte und Kultisten.

Auf ganz eigene Weise nimmt sich der Autor hier, natürlich geschickt verklausuliert, dem Klimawandel an und teilt gar mächtige Hiebe gegen das politische Establishment aus.


Alles in allem gesehen unterhält Hill formidabel, höchst abwechslungsreich und packend und beweist dabei eine thematische Bandbreite, die selten ist.