Ken Liu (Hrsg.): Zerbrochene Sterne (Buch)

Ken Liu (Hrsg.)
Zerbrochene Sterne
(Broken Stars, 2019)
Übersetzung: Karin Betz, Lukas Dubro, Johannes Fiederling, Marc Hermann, Kristof Kurz, Felix Meyer zu Venne und Chong Shen
Titelbild: Stephan Martinière
Heyne, 2020, Paperback, 670 Seiten. 16,99 EUR, ISBN 978-3-453-32058-1 (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Gunther Barnewald

Die vom chinesischstämmigen Autor und Übersetzer Ken Liu (er hat auch Cixin Lius „Trisolaris“-Trilogie in den USA übersetzt) herausgegebene Anthologie, enthält neben einer Einleitung des Herausgebers und drei Essays zur chinesischen Science Fiction (und einigen erklärenden Anmerkungen zu einzelnen Textstellen im Anhang), insgesamt zwei Novellen (ca. 120 beziehungsweise ca. 80 Seiten) und 14 Kurzgeschichten von derzeit in China bekannteren Phantastik-Autoren.

 

Ken Liu verweist im Vorwort darauf, dass er die Auswahl sehr nach seinem eigenen Geschmack zusammenstellte, was leider zu der Erkenntnis führt, dass wohl nicht jeder Fan von Phantastischer Literatur Lius Geschmack teilen wird. Vor allem die Anhänger von SF werden herb enttäuscht sein, erweisen sich viele der hier aufgenommenen Geschichten als Phantastik, die sehr an den „Magischen Realismus“ südamerikanischer Autoren erinnert. Einige gemahnen an Kunstmärchen und sind, für westliche Leser, wohl eher nur verwirrend. Lediglich die hier längste Novelle und zwei Kurzgeschichten überzeugen wirklich.

Natürlich ist da der zurecht hoch gelobte Cixin Liu, der eine wunderbare „Zeitreisegeschichte ohne Zeitreise“ erzählt, die zwar sehr an eine alte US-amerikanische SF-Geschichte von Henry Kuttner („Line to Tomorrrow“) erinnert und der das Ganze mit dem Plot von R. A. Laffertys berühmtester Story „Thus we frustrate Charlemagne“ garniert. Diese Erzählung ist aber nur knapp 25 Seiten lang und, wie gesagt, für versierte Leser nicht wirklich neu (aber trotzdem gut!).

Noch kürzer (nicht einmal 10 Seiten) ist Regina Kanyu Wangs Kurzgeschichte „Brainbox”, eine tolle Geschichte, die zeigt, wie verlogen Menschen auch zu sich selbst sein können, wenn sie sich ein eigenes Weltbild kreieren, das mit der Realität nicht übereinstimmt. Manchmal muss man halt die Fakten und die Realität ans eigene Weltbild anpassen, um dieses ja nur behalten zu können. Psychologen und Psychiater sprechen hier von Persönlichkeitsstörung, wenn man nicht sich selbst, sondern die Realität versucht anzupassen an die eigenen unerschütterlichen Überzeugungen. Vermittels kruder Weltideen oder einfach, indem man die Realität komplett oder teilweise leugnet. Dem Protagonisten in der Story hilft nicht einmal eine neue Technik, die es ihm ermöglicht, die Gedanken einer vor kurzem Verstorbenen zu lesen. Selbst dieser „Realitätsschock“ wird nachdrücklich ignoriert.

Die mit Abstand stärkste Erzählung ist jedoch die von Baoshu, der den historischen Ablauf der Weltgeschichte einfach rückwärts abwickelt. Irre, wie es dem Autor gelingt, alles plausibel und logisch zu erklären. Egal ob Gorbatschow den Warschauer Pakt gründet und der östliche Teil von Deutschland sich abspaltet und sich diesem anschließt und fortan DDR nennt. Auch die Vertreibung Fidel Castros auf Kuba durch einen blutigen, USA-hörigen Diktator oder der Zusammenbruch der Digitaltechnik durch eine wirtschaftliche Krise werden nachvollziehbar erklärt. Vor den Augen des Lesers läuft nicht nur die Historie Chinas rückwärts, sondern die der ganzen Welt. Geeint wird Deutschland dann erst wieder durch einen Diktator namens Hitler, der alles wieder mit Gewalt zusammen führt, bis auch sein Reich wieder untergeht und sich die Weimarer Republik gründet. Staunend erlebt der Leser eine Welt, die einerseits völlig fremdartig, andererseits nur allzu vertraut ist. Die wirtschaftliche Macht Chinas zerfällt, auch Mao kann das Land nicht retten, mit Chiang Kai-Sheks Machtübernahme zerbröselt die Zivilisation in China endgültig. Wirklich große Literatur, die aber leider nur halbwegs darüber hinweg täuscht, dass die restlichen Werke keine Meisterwerke sind (oder die das Missverhältnis zwischen den drei guten Texten und dem Rest umso augenfälliger machen).

Zwar gibt es noch das einE oder andere nette Märchen beziehungsweise die eine oder andere lesbare Allegorie (zum Beispiel von Fei Dao) oder „Geistergeschichte“ (Tang Feis Titelgeschichte), aber bezüglich der Ideen scheint Schmalhans Küchenmeister gewesen zu sein. Klare Erzählstrukturen sind eher Mangelware, viele Erzählungen könnte man als aufgeschriebene Träume deuten, unlogisch und manchmal fast sprunghaft.

Wer sich hier mehr erwartet hat, wird arg enttäuscht werden. Tröstlich ist lediglich, dass die herausragende Geschichte mit knapp 120 Seiten wenigstens mit Abstand die längste des Bandes ist und sie alleine vielleicht den Anschaffungspreis wirklich wert ist.

Auch die drei Essays sind interessant, informativ und sehr lesenswert. Ob dies aber wirklich für einen Band von fast 700 Seiten reicht? Wohl eher nicht!